Psychotherapeutenverfahren – Versorgungsstrukturen der gesetzlichen Unfallversicherung bei traumatischen Ereignissen

Emma P. ist als Teilhabeassistentin in einer Förderschule für mehrfachbehinderte Kinder beschäftigt. Sie ist mit einem als auffällig bekannten autistischen Jungen allein im Klassenzimmer, als dieser sie unvermittelt angreift und am Hals würgt. Emma P. arbeitet weiter, leidet aber in der Folgezeit an Schlafstörungen und wacht nachts mit Erinnerungen an das Ereignis auf. Wenige Tage später erreicht die Berufsgenossenschaft eine Unfallanzeige des Trägers der Einrichtung. Emma P. erhält zeitnah ein Informationsschreiben zu möglichen psychischen  Beeinträchtigungen. Darin wird ihr auch eine telefonisch-psychologische Beratung durch eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten angeboten. Sie meldet sich bei der  Berufsgenossenschaft und teilt mit, dass Sie vorzugsweise statt der telefonisch-psychologischen Beratung eine Psychotherapie beginnen möchte. Die von Emma P. ausgewählte  Psychotherapeutin erhält umgehend einen Behandlungsauftrag. Die Behandlung kann nach fünf probatorischen Sitzungen abgeschlossen werden, die Belastungsreaktion und die  Schlafstörungen haben sich zurückgebildet.

Traumatische Ereignisse im Arbeitsleben

Arbeits- und Wegeunfälle können auch psychische Unfallfolgen nach sich ziehen. Dabei sind ganz unterschiedliche Fallkonstellationen möglich: etwa ein Sturz vom Gerüst oder ein  schwerer Verkehrsunfall. Beschäftigte können zudem von belastenden Ereignissen am Arbeitsplatz mittelbar betroffen sein, wenn sie als Ersthelfer oder Ersthelferin eingesetzt sind. In einigen Berufen und Branchen stellen Gewalt und Aggressionen allgegenwärtige arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren dar, insbesondere für Beschäftigte mit intensivem Kontakt zu Kundschaft, Patientinnen und Patienten, betreuten Personen oder Klienten. Zudem betreffen Großschadensereignisse (beispielsweise Anschläge im öffentlichen Raum oder Zugunglücke) regelmäßig auch  Beschäftigte. Darüber hinaus können Einsatzerfahrungen für die jeweils involvierten Rettungskräfte psychische Belastungsreaktionen nach sich ziehen.

Psychotherapeutenverfahren

Für die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (UV-Träger) ist es selbstverständlich, auch bei psychischen Folgen eine geeignete  Behandlung und Rehabilitation sicherzustellen. Grundlage dafür ist das von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) 2012 eingeführte Psychotherapeutenverfahren.  Ziel ist,  für Versicherte mit psychischen Auffälligkeiten beziehungsweise Störungen frühzeitig professionelle Hilfe sicherzustellen. Das Psychotherapeutenverfahren soll die ambulante Versorgung von der Akutintervention bis zur beruflichen Reintegration gewährleisten. Die Einleitung des Psychotherapeutenverfahrens obliegt sowohl den UV-Trägern als auch den Durchgangsärztinnen und -ärzten, die im Reha-Prozess eine Lotsenfunktion wahrnehmen.

Ablauf

Psychotherapeutinnen und -therapeuten werden von den UV-Trägern und den Durchgangsärzten eingeschaltet, wenn sich psychische Auffälligkeiten zeigen (z. B. Schlafstörungen, Ängstlichkeit, Niedergeschlagenheit, erhöhte Reizbarkeit) oder wenn sich bereits eine psychische Störung manifestiert hat. Dabei genügt ein formloser Antrag der versicherten Person, die psychische Probleme nach einem Arbeitsunfall geltend macht. Auch wenn Probleme bei der psychischen Anpassung an körperliche Unfallfolgen auftreten (z. B. anhaltende Schmerzen, Brandnarben, Amputationsverletzung, Lähmungen), kommt das Psychotherapeutenverfahren zur Anwendung. Schließlich können Psychotherapeutinnen und -therapeuten bei allen anderen rehabilitativen Maßnahmen zur Reintegration in das Erwerbsleben eingebunden werden etwa wenn eine Arbeitsplatzbegleitung bei der stufenweisen Wiedereingliederung notwendig erscheint.

Unbürokratische Hilfe

Versicherte erhalten unbürokratisch bis zu fünf probatorische Sitzungen, ohne dass eine Genehmigung des UV-Trägers benötigt wird (siehe Abbildung). Zur Frühintervention und Vermeidung von Chronifizierungen wird die an sich notwendige Beurteilung, ob die psychischen Störungen unfallbedingt sind, zunächst zurückgestellt. Weitere Sitzungen im Anschluss an die Probatorik bedürfen dann der Antragstellung durch den Psychotherapeuten beziehungsweise die Psychotherapeutin sowie einer Genehmigung durch den UV-Träger. Die Genehmigung erfolgt regelmäßig für zunächst maximal zehn Sitzungen.

786 Anlaufstellen

Die am Psychotherapeutenverfahren beteiligten Leistungserbringer können in einer Datenbank der Landesverbände der DGUV mit Kontaktdaten recherchiert werden (www.dguv.de > Landesverbände > Med Reha > Psychotherapeuten). Auch finden sich hier weitere Informationen. Qualifizierte Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Wohnortnähe können zudem bei  allen UV-Trägern oder bei den Landesverbänden der DGUV erfragt werden. Aktuell stehen bundesweit 786 Psychotrauma-Anlaufstellen zur Verfügung. Im Jahr 2018 wurde in über 7.800 Fällen eine psychotherapeutische (Mit-)Versorgung von Versicherten mit psychischen Folgen nach Arbeitsunfällen sichergestellt.

Weitere Informationen
FAQ Psychische Störungen:
www.dguv.de > Reha Leistung > Med Versorgung > FAQ > Psychische Störungen

DGUV Information 206-017: Gut vorbereitet für den Ernstfall! Mit traumatischen Ereignissen im Betrieb umgehen.
www.publikationen.dguv.de > Regelwerk > Regelwerk nach Fachbereich > Gesundheit im Betrieb > Psyche und Gesundheit in der Arbeitswelt