Neurologie und künstliche Intelligenz

Spiegel, Werkzeug und Perspektive

Das Rad ist kein Bein und löst doch die gleiche Aufgabe: Fortbewegung. Künstliche Intelligenz (KI) ist kein Gehirn und löst doch gleiche Aufgaben: Erkennen und Entscheiden in einer unsicheren Umwelt. Was die Biologie über Millionen Jahre entwickelt hat, lässt sich heute teilweise elektronisch bewerkstelligen.

KI als Kind der Neurowissenschaft

Vor über 70 Jahren formulierte Alan Turing das Ziel, Maschinen zu entwickeln, die so handeln, als wären sie intelligent. Seither haben Informatik, Neurowissenschaft und Elektronik das Projekt KI kontinuierlich vorangetrieben. Hilfreich war dabei v. a. ein Werkzeug: unsere Sprache.

Mathematisierung & Lernen: Zunächst wurden Methoden entwickelt, Sprache durch Zahlenfolgen (Vektoren) zu repräsentieren. Dabei werden Wörter aus Textsammlungen durchgezählt und über die Nähe und Häufigkeit begleitender Wörter definiert. So werden unsere in Sprache abgelegten Vorstellungen von der Welt mathematisch handhabbar, etwa: König – Mann + Frau ≈ Königin. Versetzt dazu wurden Bilder und Tonspuren vektorisiert. Seit den 1980er- Jahren lernen Maschinen durch Versuche, das jeweils nächste Wort in Texten vorherzuberechnen. Jedes falsch vorhergesagte Wort führt zu Anpassungen im Rechenmodell – millionenfach wiederholt, entsteht daraus die Fähigkeit zum plausiblen Mustervervollständigen und Fortschreiben von Texten oder Frage- Antwort-Sequenzen.

Aufmerksamkeit & Gedächtnis: 2017 führte ein mathematisches Verfahren unter dem Namen Transformer einen Mechanismus für Aufmerksamkeit ein: Jedes Wort in einem Textblock wird mit allen anderen abgewogen. Diese kontextbasierte Verarbeitung erhöht Geschwindigkeit und Genauigkeit von Mustervervollständigung erheblich. Denn auch unsere Sprache ist situationsbezogen. Bald zeigte sich, dass man mehr als das Trainingswissen in einem Modell braucht. Deshalb entstanden Architekturen, die externe Wissensquellen anzapfen – Datenbanken oder bisherige Chatverläufe.

Intermodalität & Denken: Ab 2021 kombinieren Systeme vermehrt Text, Bild, Ton und Bewegungsdaten in einem gemeinsamen Repräsentationsraum. So können sie Sprache in Bilder wandeln und umgekehrt – ein Schritt hin zu einem maschinellen „Weltverständnis“. Seit 2023 werden KI-Antworten in einem an Denken erinnernden Prozess erzeugt, indem Modellen Muster menschlicher Gedankengänge vorgegeben werden (u. a. Chain of Thought), um Probleme schrittweise zu bearbeiten. Manche sehen dies als Übergang vom bloßen Sprach-Vervollständiger zum problemlösenden System mit internem Argumentationsraum. Allerdings: Ab einer gewissen Komplexität kollabieren die Systeme noch.

Nächste KI-Themen liegen aus neurowissenschaftlicher Sicht auf der Hand:

  • Planung: Komplexe Aufgaben zerlegen und selbstständig abarbeiten.
  • Handlung: Schlussfolgerungen in physische Aktionen umsetzen.
  • Bewusstsein: Eigene Rolle berücksichtigen und reflektieren.
  • Vergessen: Veraltetes Wissen selektiv löschen, kritisches erhalten.
  • Neugier: Widersprüche und Wissenslücken erkennen und durch Recherche klären.
  • Intimität: Frühere Interaktionen und Vorlieben berücksichtigen.
  • Fairness: Soziale und spieltheoretische Prinzipien zum Interessenausgleich.
  • Erfahrungsmodelle: Erste interaktiv trainierte Systeme mit Struktur- statt nur Beschreibungswissen.

KI als Mittel gegen den Pillenknick?

Die jüngsten Fortschritte der KI fallen in eine Zeit des demografischen Umbruchs. Unsere Sozial-, Gesundheitsund Pflegesysteme werden im nächsten Jahrzehnt durch die alt gewordenen Babyboomer zusätzlich beansprucht (+5 Millionen), während gleichzeitig durch den Pillenknick die Zahl der Erwerbstätigen um -7 Millionen sinkt. Das schafft Probleme für Produktivität, Finanzierung und Leistungserbringung. KI könnte helfen, diese Herausforderung zu meistern.

Grundlagen: Gen-, Protein- und Wirkstoffsequenzen lassen sich heute ebenso mathematisieren wie Sprache. So können Wirkmechanismen modelliert und neue Therapien erarbeitet werden. Für die Entwickler eines dieser Verfahren, AlphaFold, gab es bereits einen Nobelpreis. Systemische Funktionen wie Planungsfähigkeit oder menschliche Sprachnutzung könnten auch modelliert und damit Grundlage für neue Therapieverfahren werden. Aber hier stehen wir noch am Anfang.

Gehirn-Computer-Schnittstellen: Messungen elektrischer Hirnaktivität sind neurologischer Alltag. Ein qualitativer Sprung erfolgte durch adaptive maschinelle KI-Lernverfahren. Diese erlauben, gemessene Signale in Cursorbewegungen oder Greifkommandos zu übersetzen. Gelähmte Patientinnen und Patienten können so Prothesen, Tastaturen oder Smarthome-Geräte steuern. Dazu müssen sie sehr viel üben. Und für bessere Signalqualität braucht es oft gehirninvasive Elektroden, deren Implantationen Operations- und Infektionsrisiken bergen. Es handelt sich um eine Kompensationstechnologie für eine kleine Gruppe von Patientinnen und Patienten.

Klinische Werkzeuge: Neben mittlerweile „klassischen“ Spracherkennung-Systemen können zuhörende Sprach-Systeme ganze Arzt-Patienten-Gespräche in strukturierte Einträge wandeln. Transformerbasierte Verfahren, etwa in der Radiologie oder Dermatologie, können Bildinformationen quantifizieren und klassifizieren. In der Neurorehabilitation können digitale Trainings- oder Motivationsverfahren intelligenter werden. Im Intensivbereich wie der neurologischen Frührehabilitation können Vorhersagemodelle Vitalparameter, Labordaten und Medikationshistorie fusionieren und frühzeitig Hinweise auf eine beginnende Sepsis liefern. All das verbessert Versorgung, spart Dokumentationsstunden, senkt Fehlbefunde.

Automatisierte Kommunikation: KI ermöglicht eine fehlertolerante Automatisierung von sprachgebundenen Prozessen in der Patientenversorgung. Das betrifft die klinische Dokumentation mit z. B. Extraktion von Stichworten (ICD-, OPS- und ICF-Bausteinen oder Leistungsparametern) aus Freitexten oder umgekehrt die Komposition von Fließtexten aus elektronischer Dokumentation. Es betrifft die Prozesssteuerung wie z. B. die Integration von Leitlinien in individuelle Behandlungspläne. Es betrifft aber auch Abgleiche zwischen den Gesundheitssystempartnern wie sozialgesetzliche Ansprüche, Anträge, Bewilligungen, Rechnungen, Reklamationsmanagement, Prüfungen oder Zertifizierungen.
Zumindest anteilig werden viele dieser Funktionen heute als „Schatten-IT“ bereits mit frei zugänglichen, jedoch datenschutzrechtlich unsicheren Mitteln ausgeführt. Hier müssen Träger dringend hausinterne, geschlossene und wirksame Systeme etablieren. Wichtiger noch ist die Entwicklung von Verfahrensinfrastrukturen innerhalb und zwischen Institutionen.

Qualifikation: Neben dem Administrativen bleibt Medizin, insbesondere die Rehabilitation, eine automatisierungsresistente körpernahe Dienstleistung. Für die Versorgung von mehr alten Menschen benötigen wir mehr junge Menschen. Da diese in diesem Land jedoch nicht geboren worden sind, müssen wir Menschen aus dem Ausland holen und sie, beginnend mit Sprache, qualifizieren und integrieren. KI-unterstütztes E-Learning, oder besser E-Teaching, könnte bereits in Herkunftsländern genutzt werden. Es böte die Möglichkeiten für multimodales (Text, Bild, Ton, Interaktion), adaptives und personalisiertes Lernen über virtuelle „Privatlehrer“. Es fehlen noch zur Technologie passende und evidenzbasierte didaktische Konzepte und Implementierungsstrategien. Gelingt es, diese Phase zu finanzieren, ist der Ansatz beliebig skalierbar und der Wohlfahrtsgewinn durch sprachliche oder fachliche Qualifizierungen wäre gewaltig. Vieles spricht dafür, dass hier große Akteure mit Langfristperspektiven, vorzugsweise staatliche, aktiv werden sollten.

KI an der Grenze zum Körper

Künstliche Intelligenz hat spektakuläre Fortschritte gemacht: Sie besteht Staatsexamina, generiert Filme aus Texten oder übersetzt Gesprochenes in Zeichensprache. Doch all das geschieht rein digital – körperlos. Eine alternde Gesellschaft braucht aber praktische Unterstützung im Alltag: Assistenzsysteme, Haushaltshilfen und Pflegeroboter.

Zwar gibt es robotische Systeme, doch die arbeiten bisher mit fixierten Regeln. Denn sobald Maschinen in realen Umgebungen eigenständig agieren sollen, steigt die Komplexität massiv. Die physische Welt ist dynamischer und schwerer zu berechnen als sprachliche Beschreibungen: Gewicht, Reibung, Stabilität, Verletzlichkeit. Hinzu kommt: Sobald mehrere Akteure beteiligt sind – ob Menschen oder andere Maschinen – wird soziale Abstimmung nötig. Das zeigt sich auch bei den Versuchen zu autonomem Fahren.

Das größte Hindernis für robotische Intelligenz ist derzeit noch ihre Unfähigkeit, kontinuierlich zu lernen. Da die bisherigen sprachbasierten KI-Modelle für Verhalten in der physischen Welt zu grob sind, müssen robotische System entweder maximal verhaltenseingeschränkt werden
oder kontinuierlich erproben, also lernen. Doch das ist riskant. Denn KI-Modelle können durch neue Erfahrungen bestehendes Wissen überschreiben – im schlimmsten Fall mit katastrophalem Vergessen.

Neben der Perspektive intelligenter Roboter spielt Verkörperung – und sei es nur in Form der charakteristischen Stimme eines Sprachmodells – noch eine andere Rolle. Als soziale Wesen neigen wir zur Vermenschlichung unserer Umwelt. Das hilft uns, uns mit den Eigenheiten von KI-Modellen vertraut zu machen und sie als eigenständige, fehlbare, ja beaufsichtigungspflichtige Akteure zu verstehen und zu behandeln. Verkörperung kann so zu einer Schnittstelle nicht nur zwischen Maschine und Umwelt, sondern auch zwischen Technologie und Gesellschaft werden.