Kinder und Jugendliche unter Druck

Die Pandemie zeigt Bedarf an Vermittlung von Bewältigungsstrategien

Martina Siegwardt arbeitet als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit eigener Praxis in Ginsheim-Gustavsburg. BAR Reha-Info hat sich mit der Sozialpädagogin über die Auswirkungen der Pandemie unterhalten.

Wie hat sich Ihre Arbeit durch die Pandemie verändert?

Während ich im Frühjahr letzten Jahres, dem ersten für alle überraschenden Lockdown, in den meisten psychotherapeutischen Sitzungen mit Kindern, Jugendlichen und den Eltern auf Videosprechstunde umgestiegen bin, arbeite ich jetzt wieder überwiegend mit Präsenzterminen und mit den üblichen Hygienemaßnahmen. Durch die Psychotherapie über Video konnte ich zunächst den Kontakt zu den Familien aufrechterhalten. Gleichzeitig gab es allen Beteiligten auch das Gefühl, unter den erschwerten Bedingungen selbstwirksam und handlungsfähig bleiben zu können. Die Grenzen der digitalen Psychotherapie sind von den – oft nicht ausreichenden – technischen Voraussetzungen in den Familien gesetzt. Sie sind aber auch von den individuellen Fähigkeiten des Kindes abhängig, beispielsweise die Konzentration auf ein „Bildschirmgegenüber“ aufrecht zu erhalten.

Diese Fähigkeiten sind altersabhängig und auch von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. So sind jüngere Kinder von der leibhaftigen Anwesenheit des Therapeuten abhängig, während der Kontakt zu vielen Jugendlichen auch längerfristig über das digitale Medium aufrechterhalten werden kann. Aber selbst die Älteren sind froh, wieder persönlich – wenn auch dann mit Maske – kommen zu können. Besonders für Jugendliche, die innerhalb der Familie nicht genügend Autonomie und Intimsphäre erfahren, war die Rückkehr in den geschützten Therapieraum sehr wichtig. Im Moment nutze ich die Videosprechstunde vorwiegend in der begleitenden Elternarbeit oder mit jungen Erwachsenen, die beispielsweise aufgrund ihres Studiums umgezogen sind.

Umfragen zufolge steigt die Nachfrage nach Psychotherapien für Kinder und Jugendliche in der Corona-Pandemie. Woran liegt das?

Es gibt eindeutig eine verstärkte Nachfrage nach Psychotherapien, die in meiner Praxis besonders ab den Herbstferien, den anschließenden Schulschließungen und veränderten Unterrichtsbedingungen spürbar wurde. Gleichzeitig hat sich aber auch gezeigt, dass nicht alle Anfragen einer längerfristigen psychotherapeutischen Behandlung bedürfen. Manchmal reicht es schon, mit wenigen Gesprächen oder in einer kurzen Behandlung neue Perspektiven und Handlungsräume zu schaffen oder sich selbst und die Umstände besser annehmen zu können.
Offensichtlich ist, dass die familiären Konflikte und die Belastung meiner jungen Klientel durch die enge Konstellation zu den selbst oft psychisch kranken oder durch die anhaltende Doppelbelastung überforderten Eltern zugenommen haben. Einige Eltern leiden selbst unter übermäßigen Leistungsansprüchen Existenz- und Zukunftsängsten, die sie unbewusst an die Kinder weitergeben. Hinzu kommt, dass die kompensierende Beziehung zu anderen Erwachsenen wie Betreuer, Lehrer, Trainer nicht mehr ausreichend gegeben ist. Für die Jugendlichen ist der fehlende oder nicht ausreichende Kontakt zu Gleichaltrigen besonders belastend. Entwicklungsbedingt benötigen sie die Unterstützung durch die Peergroup, um ein selbstbestimmtes Leben zu entwickeln und sich von den Eltern abgrenzen zu lernen.

Wie sehen Sie die Folgen der Pandemie?

Das Ausmaß der Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf die Kinder, Jugendlichen und ihre Familien wird wohl erst in den nächsten Monaten deutlich werden, beispielsweise wenn ein absehbarer schulischer Alltag eingekehrt ist. Optimistisch stimmt mich aber, dass unsere größten Ressourcen als Mensch zur Bewältigung auch dieser Krise unsere soziale Ausrichtung, unsere Lern- und Umstellungsfähigkeiten sind. Dies kann ich in meiner therapeutischen Praxis immer wieder erleben, auch wenn diese Fähigkeiten manchmal erst wiederentdeckt werden müssen.