Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX:

Mehrere Anträge bei verschiedenen Reha-Trägern

"Durch die Stellung eines einzigen Antrags sollen ein bürgernaher Zugang zu den erforderlichen Sozialleistungen geschaffen und eine eigene gesetzliche Verpflichtung des erst oder zweitangegangenen Trägers begründet werden."

Orientierungssatz*
Der zuständige Reha-Träger nach § 14 SGB IX bestimmt sich bei mehreren gleichartigen Anträgen bei verschiedenen Reha-Trägern nach dem zeitlich zuerst gestellten Antrag.
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 17.03.2020, Az.: L 7 AL 81/19
* Leitsätze oder Entscheidungsgründe des Gerichts bzw. Orientierungssätze nach JURIS, redaktionell abgewandelt und gekürzt

Sachverhalt und Entscheidungsgründe

Bei der 1995 geborenen Klägerin besteht seit früher Kindheit ein Asperger-Syndrom. Bis zum 08.06.2017 absolvierte sie erfolgreich eine von der Beklagten Agentur für Arbeit geförderte Berufsausbildung und nahm anschließend eine Teilzeittätigkeit als Küchenhilfe in einem Integrationsbetrieb auf. Der Jugendhilfeträger (Beigeladene) gewährte der Klägerin ab 2010 bis 2016 zudem die Kosten für Therapiesitzungen in einem Autismus-Therapie-Zentrum als Eingliederungshilfe; zunächst nach § 35a SGB VIII und anschließend als Hilfe für junge Volljährige gemäß §§ 41, 35a, 39 SGB VIII.

Am 06.05.2016 stellte die Klägerin beim Sozialamt (Beigeladene) einen Antrag auf Übernahme der Kosten für die Autismus-Therapie (ab Vollendung des 21. Lebensjahres). Das Sozialamt ordnete den Antrag der Teilhabe am Arbeitsleben zu und leitete ihn am 12.05.16 an die Agentur für Arbeit (Beklagte) weiter. Die Beklagte hatte am 11.05.2016 bereits einen gleichlautenden Antrag der Klägerin erhalten und am selben Tag an das Jugendamt weitergeleitet. Der Klägerin gegenüber lehnte sie die Kostenübernahme für die Autismus-Therapie ab, weil diese nicht als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich sei. Im darauffolgenden Rechtstreit berief sie sich u. a. auch darauf, dass sie mit Blick auf die verschiedenen Anträge und Weiterleitungen im Ergebnis nicht nach § 14 SGB IX als zweitangegangener Träger zuständig geworden sei. Dieser verfahrensrechtlichen Frage folgte das LSG im Berufungsurteil nicht.

Das LSG stellt fest, dass die Agentur für Arbeit durch die fristgerechte Weiterleitung des Sozialamts gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX (a. F.) als zweitangegangener Reha-Träger zuständig geworden ist. Sie hatte somit unter allen rechtlichen Gesichtspunkten und nicht beschränkt auf das eigene Leistungsgesetz über den Antrag zu entscheiden (st. Rspr. vgl. z. B. BSG, Urt. v. 16.5.2014 014, Az.: B 11 AL 6/13 R). Sofern gleichartige Anträge bei verschiedenen Trägern zeitnah eingehen, kommt es im Rahmen des § 14 SGB IX laut LSG darauf an, welcher Antrag zuerst gestellt (hier: der am 06.05.2016 beim Sozialamt gestellte Antrag), und nicht, welcher Antrag zuerst weitergeleitet wurde. Das LSG begründet seine Ansicht vor allem mit der Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des § 14 SGB IX (a. F.).

Dabei hebt es u. a. hervor, dass im Verhältnis zum Menschen mit Behinderung allein durch die Stellung eines einzigen Antrags ein bürgernaher Zugang zu den erforderlichen Sozialleistungen geschaffen und eine eigene gesetzliche Verpflichtung des erst- oder zweitangegangenen Trägers begründet werden sollen. Diese Zuständigkeitsfestlegung würde ohne ersichtlichen Grund geschwächt, wenn deren Wirksamkeit durch evtl. später gestellte Neuanträge über denselben Rehabilitationsbedarf tangiert würde.

Weiterhin stellt das LSG unter Aufgriff der Vorgaben des BSG klar, dass für die Zuordnung einer Leistung zu einer Leistungsgruppe (vgl. § 5 SGB IX) vor allem der angestrebte Leistungszweck entscheidend ist. Darauf aufbauend ordnet es die Autismus-Therapie hier als Leistung zur Teilhabe am Leben der Gemeinschaft (seit 2018: insb. Leistungsgruppe soziale Teilhabe) ein – und nicht als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Das rechtskräftige LSG-Urteil bietet eine Lösung für die praxisrelevante Konstellation, dass mehrere gleichlautende Anträge bei verschiedenen Reha-Trägern gestellt werden. Die dabei vom LSG als maßgeblich herangezogenen Ziele der Regelung des § 14 SGB IX haben sich auch nach dem 1.1.2018 nicht geändert, sie sind vielmehr durch das BTHG nochmals unterstrichen worden.