Vom Programmsatz zum Leistungsgesetz?

Das Sozialgesetzbuch (SGB) IX im Wandel der Zeit

Die ersten Jahre des SGB IX – Ein zahnloser Tiger?

Vor 20 Jahren herrschte Aufbruchsstimmung, vor allem bei den Menschen mit Behinderungen und ihren Verbänden. Am 1. Juli 2001 trat das SGB IX zur „Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ in Kraft. In der Behindertenpolitik vollzog sich damit eine Kehrtwende: Selbstbestimmung und Teilhabe anstatt Fürsorge und Bevormundung. Ein einheitlicher  Verfahrensrahmen für alle Reha-Träger, mit modernen und bürgerorientierten Aspekten, wie die Beratung durch Servicestellen, die Einführung des Wunsch- und Wahlrechts oder individuelle Formen der Leistungserbringung, wie das persönliche Budget. Ähnlich hoch wie die anfänglichen Erwartungen waren in den kommenden Jahren auch die Enttäuschungen bei der tatsächlichen – als zu langsam empfundenen – Umsetzung.

Mehr als ein Programm – das Bundesteilhabegesetz als neue Chance

Seitdem hat sich viel verändert. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (VN-BRK) trat 2009 in Deutschland in Kraft. Leitbild der UNBRK ist der Gedanke der Inklusion: Die Gesellschaft muss sich öffnen, damit Vielfalt gelebt werden kann. Behindert ist man nicht, behindert wird man. Dadurch wandelte sich vor allem die Perspektive auf die Menschen mit Behinderungen und ihre Rechte. Dies bildete das Fundament für das Bundesteilhabegesetz, das seit 2017 stufenweise eingeführt wird. Einen ersten wichtigen Meilenstein der Reform stellte die Neufassung des trägerübergreifenden Verfahrensrechts im ersten Teil des SGB IX dar. Wichtige Vorschriften zur Bedarfsermittlung, zur Kooperation der Träger oder zur Koordination von Leistungen wurden klarer und vor allem verbindlicher ausgestaltet. Neben der Stärkung der Partizipation der Leistungsberechtigten stellte die Beobachtung des Verwaltungshandelns einen weiteren Kern der Reform dar. Seitdem macht der Teilhabeverfahrensbericht Reha-Prozesse transparent. Anhand von Zahlen, fehlenden Zahlen und Unterschieden zeigt der zweite Bericht bereits erste Optimierungsansätze auf.

Aktuelle Entwicklungen – das Teilhabestärkungsgesetz

Und es bleibt noch Einiges zu tun, um Selbstbestimmung und Teilhabe im Alltag und am Arbeitsplatz zu verbessern. Am 3. Februar 2021 wurde das Teilhabestärkungsgesetz vom Bundeskabinett beschlossen, mit einer Vielzahl von inklusionspolitischen Maßnahmen. Neu sind Regelungen zur Begleitung von Menschen mit Behinderungen durch einen Assistenzhund. Diese stellen sicher, dass der Zutritt zu öffentlichen Gebäuden, Anlagen und Einrichtungen nicht wegen der Begleitung durch den Assistenzhund verweigert werden darf. Der Schutz vor Gewalt, der Frauen und Kinder in Einrichtungen noch viel zu oft ausgesetzt sind, wird normiert. Die Betreuung und die Wiedereingliederung von Leistungsberechtigten im Bereich des SGB II und die Teilhabechancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt von Beschäftigten in den Werkstätten sollen wirksam verbessert werden.

Das SGB IX auf dem Weg zum Leistungsgesetz?

Kann der erste Teil des SGB IX werden, was der zweite Teil des SGB IX bereits ist? Ein  Leistungsgesetz? Der Ansatz, Grundsätze, Leistungen und Regeln im Bereich von Reha und Teilhabe für alle Menschen und Träger unter einem Dach zu vereinen, ist und bleibt richtig. Teilhabe braucht Weiterentwicklung. Nur durch die Reduzierung von Spezialregelungen außerhalb des SGB IX, den Abbau hemmender Divergenzen und die Stärkung einheitlicher Leistungen und Verfahren können die über 3,2 Millionen Antragsteller vom umfangreichen Teilhabegedanken des SGB IX profitieren. Wenn es um die umfassende und zügige Leistungsbewilligung für Menschen mit Behinderungen geht, dann braucht es ein SGB IX als  gemeinsames Verfahrens- und Leistungsgesetz – und hoffentlich in absehbarer Zeit mit einem einheitlichen Grundantrag.