Rehabilitation und Sehbehinderung

Die meisten Sinneseindrücke nimmt der Mensch über die Augen wahr. Etwa 80% der Informationen über die Umwelt werden visuell aufgenommen. Die Augen sind unser Fenster zur Welt. Wie sieht die Welt aus, wenn die Augen nicht mehr richtig arbeiten? Wie fühlt sie sich für jemanden an, der sie noch nie gesehen hat? Welche Ursachen gibt es für eine Erblindung oder eine Sehbehinderung und wo ist eigentlich der Unterschied?

 

Für das Ausmaß einer Sehbeeinträchtigung sind unter anderem die Sehschärfe (Visus) und das Gesichtsfeld entscheidend. Der Visus ist die Fähigkeit der Augen, Dinge scharf zu sehen. Der normale Visus ist altersabhängig und liegt bei einem 20-jährigen Menschen bei 1,0 bis 1,6 (100 % bis 160 %), bei einem 80-jährigen bei 0,6 bis 1,0 (60 % bis 100 %). Das Gesichtsfeld ist ein Bereich von etwa 175 Grad, in dem optische Reize wahrgenommen werden, ohne die Augen, den Kopf oder den Körper zu bewegen. Im Alter wird das Gesichtsfeld aufgrund normaler Alterungsprozesse im Auge kleiner.
Sehbehindert oder blind? Um dies im rechtlichen Kontext klar beantworten zu können, gibt es in Deutschland feste Definitionen:
Eine Sehbehinderung liegt vor, wenn die betroffene Person trotz Brille oder Kontaktlinse auf dem besser sehenden Auge über ein Sehvermögen von 0,3 (30 Prozent) oder weniger verfügt. Wesentlich sehbehindert beschreibt ein Sehvermögen von 0,05 (fünf Prozent) oder weniger und eine Blindheit (Amaurosis) liegt vor, wenn jemand weniger als 0,02 (zwei Prozent) dessen sieht, was ein normal sehender Mensch erkennt.
In Deutschland leben rund 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen. Das sind Schätzungen und Hochrechnungen, da blinde und sehbehinderte Menschen hierzulande nicht gezählt werden. Die Zahlen beruhen auf Erhebungen der WHO für andere Länder und werden für Deutschland hochgerechnet und angenommen. Über 20 000 Menschen erblinden schätzungsweise jährlich in Deutschland, die Hälfte von ihnen
ist 80 Jahre oder älter und leidet zumeist an einer altersbedingten Makuladegeneration. Bei Diabetikern zwischen 40 und 80 Jahren sind Netzhautveränderungen, bei jungen Menschen unter 40 eher absterbende Sehnerven (Optikusatrophie) die Ursache.
In den meisten Fällen sind Blindheit oder Sehbehinderung erworben und treten im Laufe des Lebens ein bzw. entwickeln sich erst im Laufe des Lebens. Ursachen sind meistens Krankheiten, die bestimmte Teile des menschlichen Auges schädigen, wie zum Beispiel die altersbedingte Makuladegeneration, der Grüne Star, eine Netzhautablösung, durch Diabetes verursachte Augenkrankheiten oder vererbbare Augenerkrankungen wie der Graue Star. Jedes Jahr werden in Deutschland aber auch ca. 160 Kinder blind geboren. Bei ihnen fehlen beispielsweise Teile des Sehapparats oder die Verbindung zwischen Auge und Gehirn.

Leben mit Sehbehinderung

Wie ein Mensch mit Sehbehinderung seine Umwelt wahrnimmt hängt von vielen Faktoren ab und ist sehr individuell. Nicht nur die Augenkrankheit selbst und welcher Teil des Auges betroffen ist spielt eine Rolle, entscheidend sind auch Lebensalter, mögliche zusätzliche Erkrankungen und die körperliche und psychische Verfassung.
Beim Grauen Star beispielsweise nehmen die Betroffenen ihre Umwelt wie durch einen Schleier wahr. Bei der altersbedingten Makula-Degeneration werden die anvisierten Objekte entweder unscharf oder gar nicht mehr gesehen. Diabetische Netzhauterkrankungen führen zu Ausfällen im peripheren Sehen und zu Beeinträchtigung des Farbensehens und der Sehschärfe. Aber selbst Menschen, die nach dem Gesetz blind sind (Visus unter 0,02), können oft noch hell und dunkel unterscheiden oder sehen einen ganz kleinen Ausschnitt.
Fortschreitender Sehverlust, zunächst im äußeren Gesichtsfeld, dann Ausdehnung in die Mitte bis zur völligen Erblindung. Nebel- oder Schleiersehen, Schatten, Vorhang, grauer Fleck: Die Beschwerdebilder von Augenkrankheiten sind so mannigfaltig wie individuell. Sehbehinderung und Blindheit sind nicht immer stabile Zustände. Oft sind es lange, manchmal lebenslange Prozesse bis es zu einer Sehbehinderung oder Blindheit kommt. Die Erkrankung der meisten Betroffenen entwickelt sich schleichend oder in Schüben. Die Verschlimmerung kann jederzeit eintreten, sodass „gutes Sehen“ als Vergleichszustand noch präsent ist. Nicht zu wissen, wie sich die Verschlechterung des Sehens weiter entwickelt ist für diese Menschen besonders schwer zu kompensieren. Wenn das Sichtfeld immer weiter schrumpft, wenn der Blick auf die Welt sich zu einem immer enger werdenden Tunnel reduziert, wie es bei der Retinitis pigmentosa, eine durch Vererbung entstehende Netzhautdegeneration, der Fall ist, dann ist das ein bedrohliches Szenario. Erblindung und der Eintritt einer Sehbehinderung sind häufig mit außergewöhnlicher psychischer Belastung verbunden. Nicht nur die optische Wahrnehmung fehlt. Betroffene empfinden vor allem Hilflosigkeit und das Angewiesensein auf die Hilfe ihrer Mitmenschen. Der Verlust der Orientierung führt zu Mobilitätseinschränkungenund die zwischenmenschliche Interaktion wird durch den Wegfall des Blickkontakts wesentlich erschwert.
Dieser Zustand muss erst mal verarbeitet werden und geht oft mit Frustration, Angstzuständen oder Depression einher. Das Institut für Gesundheits-System-Forschung stellte im Jahr 2000 fest, das Blindheit und Sehbehinderung das Alltagsleben und die Lebensqualität der Patienten über viele Jahre, oder sogar Jahrzehnte beeinflussen. Der Weg zurück zur Teilhabe an einem „normalen“ Leben ist ein weiter.

Besonderheiten bei der Rehabilitation

Bevor Menschen mit Sehbehinderung oder erblindete Menschen sich wieder in ihrem Alltag zurechtfinden und sich eventuell beruflich neu orientieren können, müssen sie Techniken und Fertigkeiten erlernen. Das
geschieht in der sogenannten Elementar- oder auch Grundrehabilitation. Hier geht es neben dem Kompetenzaufbau für erforderliche Hilfsmittel in erster Linie um die Vermittlung lebenspraktischer Fertigkeiten (z.B. Ernährung, Körperpflege, Haushaltsführung und Kommunikation) und das Training von Orientierung und Mobilität. Rehabilitation zielt darauf ab, blinden und sehbehinderten Menschen ein weitgehend selbstständiges Leben in Gesellschaft, Beruf und Familie zu ermöglichen. In der Grundrehabilitation eignen sie sich die notwendigen alternativen Strategien dazu an. Sie benutzen Hilfsmittel wie den weißen Langstock oder Vorlesegeräte und sprechende Uhren, aber auch den Computer und die Blindeschrift (Braille-Schrift). Sie können auch andere Menschen um Hilfe bitten, um zum Beispiel zu erfahren, welcher Bus gerade vorgefahren ist oder welche Sorte Joghurt sie im Laden aus dem Regal genommen haben. Blinde Menschen lernen im Laufe der Zeit auch, ihre anderen Sinne besser zu nutzen und hören beispielsweise, wie weit ein Auto weg ist oder fühlen am Luftzug, ob die U-Bahn kommt. Das geschieht meist intuitiv und hängt mit Gedächtnis und Erfahrung zusammen. Von Kind an lernen wir auditive und visuelle Reize zu unterscheiden.
Bislang gibt es allerdings in Deutschland keine geregelte medizinische Rehabilitation nach Sehverlust. Insbesondere fehlt es an einem Gesamtkonzept für die Sicherung der Teilhabe durch angemessene Angebote. So werden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken in der Regel durch medizinische, psychologische, soziale und technische Rehabilitation ergänzt. Ältere Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung erhalten zwar ein Orientierungs- und Mobilitätstraining, eine weitergehende Förderung einer Teilhabe an der Gesellschaft ist aber derzeit nicht vorgesehen. Die Möglichkeiten der Rehabilitation werden insgesamt zu wenig ausgeschöpft. Hier fordern Verbände wie der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband grundlegende Verbesserungen. Rehabilitation mit einer Kombination von psychosomatischen und sehbehinderten- bzw. blindentechnischen Maßnahmen soll dazu beitragen, über eine gelungene Verarbeitung der Einschränkung durch die Sehbehinderung und eine  Kompensation durch Arbeitstechniken und Hilfsmittel die gesellschaftliche und berufliche Integration oder Neuausrichtung frühzeitig zu gewährleisten. Nur so können unnötiger Verlust der Selbstständigkeit und der Erwerbsfähigkeit vermieden werden. Der Anteil derer, die nach einer Erblindung oder Sehbehinderung ihren Arbeitsplatz verlieren und zwischen Krankheit und Berentung schwanken ist hoch.