Interview mit Rika Esser, Beauftragte der Landesregierung für Menschen mit Behinderungen in Hessen

Seit 1. März 2020 ist Rika Esser die Beauftragte der Menschen mit Behinderungen in Hessen. Auch die ersten Monate ihrer Amtszeit wurden von der Corona-Pandemie überschattet.

Derzeit überschattet die Corona-Pandemie alles. Wie gehen die Menschen mit Behinderungen in Hessen mit der aktuellen Situation um? Wie kommen Sie zurecht? Was muss die Politik tun?

Es hat sich zunächst herausgestellt, dass es „die“ Menschen mit Behinderungen nicht gibt. Ich lege deshalb bei dieser Frage den Fokus auf zwei Fragestellungen, die in der Corona-Krise häufiger Thema waren:
Die Corona-Krise hat eine Maskenpflicht mit sich gebracht. Für viele von uns war dies ein lästiges, aber notwendiges Übel. Menschen mit Behinderungen können ggf. aus behinderungs- oder krankheitsbedingten Gründen keine Maske tragen. Die einschlägigen Corona-Verordnungen sehen auch Ausnahmen von der Maskenpflicht für diesen Personenkreis vor. Dennoch haben etliche Bürger*innen sich an mich gewandt, da Menschen mit Behinderungen, die keine Masken tragen konnten, der Zutritt zu Geschäften oder öffentlichen Verkehrsmitteln verwehrt wurde. Wir wollen daran arbeiten, die bestehenden Ausnahmen bekannter zu machen. Es muss jeweils abgewogen werden zwischen den schützenswerten Interessen der Beteiligten, also bspw. dem Gesundheitsschutz eine*r Friseur*in, und dem Interesse der oder des Kunden, keine Maske zu tragen, wenn es nicht möglich ist.
Einrichtungen der Altenhilfe und der Behindertenhilfe wurden hinsichtlich der Besucherregelung gleichbehandelt. Dies war folgerichtig, weil zu Beginn der Corona Pandemie niemand wusste, wie sich das Infektionsgeschehen in den Einrichtungen entwickelt. Parallel dazu hat das Sozialministerium ein tägliches Monitoring in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe durchgeführt, um die Entwicklung sehr aktuell nachvollziehen zu können. Nachdem sich belegen ließ, dass der Infektionsverlauf in Einrichtungen der Behindertenhilfe deutlich milder ist als in Altenpflegeeinrichtungen, konnte die Landesregierung die Besucherreglung in der Behindertenhilfe großzügiger gestalten und hat dies auch getan.
Insgesamt sind wir als Gesellschaft routinierter geworden in der Anwendung der Schutzkonzepte, sodass bei Einhaltung der Regeln auch Besuche in Einrichtungen verstärkt möglich sein sollten. Freund*innen und Angehörige haben nicht nur für behinderte Menschen, sondern für alle Menschen eine herausragende Bedeutung, sodass ich mir erhoffe, dass mit einer zunehmenden Selbstverständlichkeit bzgl. der Schutzmaßnahmen auch zukünftig mehr soziale Kontakte zu Heimbewohner*innen ermöglicht und gehalten werden können.
Diese Erfahrungen können wir für die Zukunft nutzen und im Falle einer sog. zweiten Welle hoffentlich differenzierter reagieren als das früher möglich war.

Werden aus Ihrer Sicht langfristige Beeinträchtigungen für Menschen mit Behinderungen infolge der Pandemie bleiben? Welche sind das? Und was kann die Gesellschaft dagegen tun?

Menschen mit Behinderungen haben – nicht zuletzt angestoßen durch die UN-Behindertenrechtskonvention – ein höheres Maß an gesellschaftlicher Teilhabe erreicht. Es gehört zur Normalität, dass Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen einfordern, mit dem Ziel in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft - von der Bildung, über den Wohnungsbau bis hin zur Leichten Sprache – Barrieren abzubauen.
Bei der Abwägung von Bürgerrechten und Gesundheitsschutz, sind Menschen mit Behinderungen und ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in besonderer Weise zu beachten. Maßnahmen des Gesundheitsschutzes müssen sich stets am Prinzip der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen orientieren und prüfen lassen. Hier haben wir in den vergangenen Monaten auch in allen Bereich viel gelernt und können in einem möglichen weiteren Pandemiefall noch differenzierter und zielgenauer reagieren.
Mit Sorge sehe ich die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Bereits jetzt mussten viele Arbeitnehmer*innen in Kurzarbeit gehen oder entlassen werden. Bei länger anhaltenden wirtschaftlichen Einschränkungen ist zu befürchten, dass dieser Trend sich noch verstärken wird. Menschen mit Behinderungen können es in dieser verstärkten Konkurrenzsituation schwerer haben, einen Arbeitsplatz zu erlangen. Hier müssen wir von allen Seiten versuchen, die bestehenden Möglichkeiten konsequent zu nutzen, die wir haben: angefangen bei der Sensibilisierung der Arbeitgeber*innen über die Förderung der Arbeitsverhältnisse bis hin zur möglichst raschen Bewilligung der notwendigen Arbeitsplatzausstattung und –assistenz. Hier sind alle beteiligten Akteur*innen gefragt.

Bestehende Triage-Empfehlungen sind durch die Corona-Pandemie gesellschaftlich verstärkt in das Bewusstsein gerückt. Welche Auswirkungen hat das auf Menschen mit Behinderungen und welche Veränderungen dieser Empfehlungen braucht es?

Die Triage-Debatte hat durch den bisherigen - in Deutschland beherrschbaren - Verlauf der Pandemie ein wenig an Aufmerksamkeit verloren. Ich bin allerdings dezidiert der Auffassung, dass so weitreichende Entscheidungen, die über Leben oder Tod entscheiden, nicht Ethik-Räten ohne Beteiligung von Menschen mit Behinderungen überlassen werden darf. Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Jeder Mensch ist gleich viel Wert, der Staat darf keine Wertung vornehmen - so stellte es das Bundesverfassungsgericht 2006 klar, als es einen Paragrafen im Luftsicherheitsgesetz kippte. Es ging um die Frage, ob der Staat den Abschuss eines entführten Flugzeugs, das in ein Hochhaus fliegen will, regeln darf. Das verbiete die Menschenwürdegarantie, entschieden die Richter*innen. Auch wenn man durch das Opfern der Insassen vielleicht wesentlich mehr Menschen vor dem Tod bewahren könne und auch wenn die Menschen im Flugzeug wahrscheinlich ohnehin nach kurzer Zeit sterben würden. Übersetzt auf die Triage-Empfehlungen heißt das: Auch hier darf der Staat nicht entscheiden, dass das Leben eines jungen Menschen mehr wert ist als das eines alten oder behinderten Menschen. Natürlich muss man den Medizinern Regeln an die Hand geben. Wenn Höchstwerte wie die Menschenwürde und das Leben auf dem Spiel stehen, muss der Gesetzgeber die Regelungen treffen. Insbesondere hier gilt, was in Artikel 38 GG steht: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Was sind positive Erfahrungen, die Sie während der Pandemie gemacht haben? Was lief gut, bzw. was sollte man sich bewahren?

Im Fernsehen live ausgestrahlte Pressekonferenzen der hessischen Landesregierung zur Coronakrise werden mit Gebärdensprachdolmetscher*innen und Liveuntertiteln ausgestattet. Die wichtigsten Dokumente werden in einfache Sprache übersetzt. Der Hessische Verband für Gehörlose und hörbehinderte Menschen hat sich unter anderem auch an mich gewandt und mich um Unterstützung gebeten. Wir haben hier eindeutig Fortschritte gemacht und ich habe mich bei der Hessischen Landesregierung dafür eingesetzt, dass dieser Standard auch nach Corona erhalten bleibt.
Um nochmals auf den Arbeitsmarkt zurück zu kommen: hier sehe ich auch Chancen durch die Coronakrise, da die Nutzung digitaler Arbeitsmöglichkeiten mittlerweile viel breiter akzeptiert ist. Das kann vorteilhaft sein für Arbeitnehmer*innen mit Behinderungen, da ein flexibleres Arbeiten ermöglicht wird.

Welche Themen und Schwerpunkte haben Sie sich in Ihrer weiteren Amtszeit vorgenommen? Welche Entwicklungen nimmt der Inklusionsbeirat in Hessen?

Die Umsetzung der bereits angesprochenen Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Hessen ist eine wichtige Aufgabe. Mir kommt gemeinsam mit dem Inklusionsbeirat die Rolle zu, künftig Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK anzuregen. Der Inklusionsbeirat hat erstmals im aktuellen Behindertengleichstellungsgesetz vom 19. Juni 2019 in § 19 eine gesetzliche Grundlage bekommen. Er besteht aus 30 Mitgliedern, von denen mindestens 16 Mitglieder Vertreterinnen oder Vertreter der Menschen mit Behinderungen sind.
Eine der Maßnahmen, bei der mich der Inklusionsbeirat unterstützt, ist bereits im Koalitionsvertrag erwähnt. Zur Beratung von Kommunen, Vereinen und Institutionen zur Umsetzung der Barrierefreiheit soll in Hessen ein Kompetenzzentrum Barrierefreiheit eingerichtet werden. Auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit in den unterschiedlichen Bereichen – vom Bauen, über die Kommunikation bis hin zur Leichten Sprache – weiter voranzukommen, ist ein wichtiges Ziel für mich.
Zum anderen sollen die Kommunen bei der Regelung der Interessenwahrung von Menschen mit Behinderungen vor Ort durch Satzungen unterstützt werden. Das heißt für mich auch, gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden entsprechende Mustersatzungen zu erstellen.
Beide Bereiche hängen eng miteinander zusammen, denn der Hauptbezugspunkt für die Menschen ist die Kommune, in der sie leben. Wie können Städte und Sozialräume barrierefreier werden? Alle Menschen wollen sich in ihrer Stadt, in ihrem Sozialraum bewegen. Deshalb muss ein „Design for all“ Standard werden.
Ein weiteres wichtiges Thema ist für mich Arbeit und Beschäftigung. Im bundesweiten Vergleich steht Hessen als Arbeitgeber mit einer Beschäftigungsquote von über sieben Prozent gut da. Aber der demographische Wandel macht sich insbesondere bei Menschen mit Behinderungen bemerkbar: die überwiegende Zahl der behinderten Beschäftigten ist bereits jetzt 50 Jahre und älter und wird in absehbarer Zeit in den Ruhestand gehen. Daher können wir uns auf den Erfolgen nicht ausruhen. Ich werbe bei den verschiedenen Ressorts dafür, bei Stellenausschreibungen verstärkt auch Menschen mit Behinderungen anzusprechen und fördere die Vernetzung zu den spezialisierten Ansprechpartner*innen bei Jobcentern, Arbeitsagenturen und Integrationsfachdiensten. Auch die vorhandenen Möglichkeiten der Förderung von Arbeitsverhältnissen im Landesdienst möchte ich außerhalb der Landesregierung bekannter machen, damit sie noch stärker genutzt werden.