Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen in Einrichtungen

„Menschen mit Behinderungen werden besonders häufig Opfer von Gewalt in unterschiedlichster Form. Wir wollen die Aufklärung und Stärkung der Menschen fördern sowie Gewaltschutzkonzepte in Einrichtungen und eine Verbesserung der Unterbringungsmöglichkeiten nach Übergriffen.“ So steht es im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Auch die Vereinten Nationen fordern seit 2015 von der Bundesregierung „eine umfassende, wirksame und mit angemessenen Finanzmitteln ausgestattete Strategie aufzustellen, um in allen öffentlichen und privaten Umfeldern den wirksamen Gewaltschutz für Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu gewährleisten“. Denn tatsächlich belegen Studien seit den 1990er Jahren, dass Menschen mit Behinderungen, insbesondere Frauen im Vergleich zur restlichen Bevölkerung viel öfter Gewalt erleben.

Allgemein erleben Frauen mit Behinderungen zwei- bis dreimal häufiger Gewalt als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Sie haben durchweg Erfahrungen mit verschiedensten Diskriminierungen. Das gilt insbesondere für Frauen in Einrichtungen, die zudem in einem hohen Maß struktureller Benachteiligung ausgesetzt sind. Strukturen in Einrichtungen können sowohl bereits gewalttätig sein, als auch Gewalt fördern und begünstigen. Der Alltag dieser Frauen ist oft geprägt davon, dass ihr Tagesablauf sowie die Zuteilung von Zimmerpartnerinnen vorgeben wird oder das eigene Zimmer oder Toiletten und Waschräume nicht abgeschlossen werden können. Ein Mangel an Privatsein und Selbstbestimmung kennzeichnet das Leben dieser Frauen. Eine Lebensgestaltung mit vertrauensvollen und engen Beziehungen ist in solchen Umgebungen kaum möglich. Hinzu kommt, dass diese Frauen kaum Chancen für alternative Lebensentwürfe haben, da sie über wenig Geld und mangelnde Bildungs- und Berufsressourcen verfügen. Diese strukturellen Benachteiligungen fördern Gewalt. Auch haben viele Frauen mit (gesundheitlichen) Beeinträchtigungen nicht gelernt, ihre Grenzen zu erkennen und sich zu wehren. Gleichzeitig ist die Suche dieser Frauen nach Unterstützung in Gewaltsituationen erschwert.
Das Ausmaß an Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen in Einrichtungen machen die Ergebnisse der Studie des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung aus dem Jahr 2014 deutlich. So erlebten 92% (davon 51% in den letzten 12 Monaten) der psychisch beeinträchtigten Frauen psychische Gewalt, 78% (17% davon in den letzten 12 Monaten) körperliche Gewalt und 42% (davon 33% in den letzten 12 Monaten) sexualisierte Gewalt. Auch die Befragungen von Frauen mit Lernschwierigkeiten oder sogenannten geistigen Behinderungen zeigen diesen Trend: 68% erlebten psychische Gewalt, etwa 50% körperliche Gewalt und 40% sexuelle Belästigung.
Zwar sieht die Werkstätten-Mitwirkungsverordnung seit 2017 eine Frauenbeauftragte in jeder Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) vor. In Bremen, Rheinland-Pfalz und Thüringen sind Frauenbeauftragte in Wohneinrichtungen generell verpflichtend, aber das kann nur ein Baustein zu mehr Gewaltprävention in Einrichtungen sein. Vielmehr zeigt die Studie auch einen maßgeblichen Zusammenhang zwischen gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Diskriminierungen. Frauen, die in ihrem gesamten Leben Diskriminierung und Bevormundung ausgesetzt waren, erleben auch später in Einrichtungen und anderen Lebenssituationen erheblich häufiger Gewalt.
Gewaltschutz ist eine Leitungsaufgabe von Einrichtungen. Präventions- und Interventionskonzepte sind unerlässlich und müssen das Ziel haben, Frauen generell zu schützen und zu stärken. Vielmehr ist auf ihre Bedürfnisse einzugehen und ihre Selbstbestimmung zu respektieren und zu forcieren. Zum Abbau gewaltfördernder Strukturen in Einrichtungen sind unterschiedliche Maßnahmen notwendig, wie beispielsweise Wahlmöglichkeiten, Reflexion von Macht und Gewalt, die zielgerichtete Schulung des Personals, die Implementierung eines entsprechenden Qualitätsmanagements und nicht zuletzt die Nutzung externer Unterstützungsangebote. Auch die Bundesregierung hat die Problematik erkannt. Sie will noch im Laufe dieser Legislaturperiode Vorschläge für ein Gewaltschutzkonzept erarbeiten. Das alles kostet Geld. Aber eine ausreichende Finanzierung und Ausstattung von Einrichtungen zum Gewaltschutz ist unumgänglich. Denn Selbstbestimmung ist ein Grundrecht und die Gewalt, die sie einschränkt, ist eine Menschenrechtsverletzung.

Weitere Informationen finden Sie z. B. in

BMFSFJ (2014): Gewalterfahrungen von in Einrichtungen lebenden Frauen mit Behinderungen – Ausmaß, Risikofaktoren, Prävention.

Der Paritätische (2013): Schutz vor sexualisierte Gewalt in Diensten und Einrichtungen.

Weibernetz e. V. (2016): Checkliste zum Erstellen eines Leitfadens zum Umgang mit (sexualisierter) Gewalt. https://www.weibernetz. de/checkliste_Leitfaden_Gewaltschutz. pdf (19.11.2019).

und im Internet, z. B. www.weibernetz.de; www.paritaet.org