Strategisch geplant, individuell abgestimmt

Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen im Arbeitsleben

In bundesweit rund 60 Rehabilitationseinrichtungen für psychisch kranke Menschen (RPK) werden Frauen und Männer, die aufgrund psychischer Erkrankungen komplexe Teilhabebeeinträchtigungen aufweisen, über die sozialrechtlich getrennten Bereiche der medizinischen und beruflichen Rehabilitation hinweg ganzheitlich behandelt und gefördert. Dies geschieht im Rahmen eines verzahnten medizinisch-beruflichen Rehakonzeptes. Grundlage hierfür ist die bundesweite RPK Empfehlungsvereinbarung, die die BAR aktuell überarbeitet.

Ein Beispiel

Herr G. tritt im Alter von 37 Jahren seine Rehabilitation in einer mitteldeutschen RPK an. Er leidet an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit impulsiven, paranoiden und selbstunsicheren Zügen. Die Vorgeschichte ist von vielen Krisen gekennzeichnet. Zuletzt war eine stationäre Behandlung nach einem Suizidversuch notwendig.

Im fachärztlichen RPK-Aufnahmegespräch berichtet Herr G. von Selbstwertproblemen, innerer Anspannung und Aggressivität, Stimmungsschwankungen, Konzentrationsminderung, Misstrauen, Pessimismus, zeitweise lebensmüden Erwägungen. Zudem bestehen eine chronische Haut- und Gelenkerkrankung sowie Schmerzen, die nicht allein durch die physische Diagnose erklärbar sind. Verhaltensauffälligkeiten und emotionale Schwierigkeiten liegen schon seit der Schulzeit vor.
Die Berufsbiografie des Rehabilitanden weist eine eklatante Lücke auf: Nach Hauptschule und Ausbildung als Tierwirt, war Herr G. 17 Jahre lang arbeitslos. Fördermaßnahmen zur beruflichen Teilhabe führten nie zu einer Arbeitsaufnahme. Der Rehabilitand wohnt im ländlichen Raum mit wenig Infrastruktur. Wichtigste Bezugsperson ist die krebskranke Mutter, der Vater lebt nicht mehr. In der Rehabilitation drücken sich Misstrauen und Frustrationen des Rehabilitanden in heftig vorgebrachten Klagen gegen Personen, Institutionen und „die Politik“ aus. Herr G. redet sich in Rage, wird laut, knallt Türen. Schmerzzustände korrelieren in Auftreten und Intensität mit dem psychischen Befinden. Bei durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten kann Herr G. den eigenen (über)hohen Leistungsansprüchen oft nicht gerecht werden, Misserfolge verarbeitet er aggressiv (durch Abwertung der aufgabenstellenden Person) oder depressiv (durch Selbstabwertung).

Die ersten Gespräche sind reine Kriseninterventionen. Im Kontakt werden seine hohe emotionale Belastung, Verletzbarkeit, Einsamkeit und ein geringes Selbstwertgefühl deutlich.

Eineinhalb Jahre später beendet Herr G. die RPK und tritt eine unbefristete Anstellung im Umfang von 30 Wochenstunden, mit mittelschweren Tätigkeiten im Bereich der Gebäudereinigung an. Bislang hat Herr G. noch an keinem Arbeitstag gefehlt. Er hat inzwischen eine Freundin, beide suchen eine gemeinsame Wohnung in der Stadt und damit in der Nähe seines Arbeitsplatzes.

Was hat Herr G. gebraucht?

Ein individuelles Teilhabeziel. Der Wunsch des Rehabilitanden, über eine berufliche Tätigkeit sowohl Sinn als auch Anerkennung durch andere zu erleben, wird nicht nur verbalisiert, sondern ist durchgängig spürbar.

Ein interdisziplinäres Rehateam. Die konzeptionelle Verzahnung von medizinscher und beruflicher Rehabilitation setzt sich im Team konsequent fort: Mit dem Rehabilitanden im Zentrum des Geschehens, arbeiten alle beteiligten Professionen (Ärztin, Psychologin, Sozialpädagogin, Krankenpflege, Ergotherapeutin, Dozentinnen und Dozenten sowie Arbeitsanleiterinnen und Arbeitsanleiter, Sporttherapeut, Integrationscoach) eng zusammen, um Rehabilitationsschritte zu planen, umzusetzen, auszuwerten und ggf. anzupassen. Die ICF als Bezugsrahmen hilft, die Vielschichtigkeit des Einzelfalles zu erfassen und die Schritte zur Teilhabe zu definieren. Die Fallmanagerin behält den roten Faden und sorgt für Transparenz.

Ein Beziehungsangebot als Wirkfaktor. Feste Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner begleiten Herrn G. durch die gesamte Rehabilitation. Ihm wird ein beständiges, seiner Problematik adäquates Beziehungsangebot gemacht, geprägt von viel Wertschätzung und Ermutigung, bei Bedarf auch ehrlicher kritischer Rückmeldung und Begrenzung.

Psychotherapie orientiert am Teilhabeziel. Um die beruflichen Ziele erreichen zu können, werden mit Herrn G. diese Behandlungsziele für die Einzel- und Gruppentherapie vereinbart: Stärkung des Selbstwertgefühls, Verbesserung der Emotionskontrolle, Training sozialer und kommunikativer Kompetenzen, Bearbeitung des generalisierten Misstrauens und Pessimismus, Erarbeitung von Strategien zur Schmerzbewältigung.

Arbeit. Für Herrn G. sind Arbeitserfahrungen von besonderer Bedeutung, da ihm diese fast völlig fehlen. Sie dienen der beruflichen Orientierung und dem Training der körperlichen und psychischen Belastbarkeit sowie dafür, seine Erwartungen an das Arbeitsleben einer Realitätsprüfung zu unterziehen. Für Herrn G. ist Arbeitspraxis in der Reha aber insbesondere auch Übungsfeld und Bewährungsprobe für die Emotionsregulation sowie angemessenes Sozialverhalten. Erprobungen erfolgen in seinem Fall in internen RPK-Arbeitsbereichen (Handwerk, Hauswirtschaft, Gastronomie) und in betrieblichen Praktika im Handel, im Gartenbau und in der Gebäudereinigung.

Mit Unterstützung reflektiert Herr G. in vielen „Rückkopplungsschlaufen“ seine Arbeitserfahrungen und Interaktionen sowie sein Befinden, um sich – ggf. mit Anpassungen der Tätigkeit und/oder des eigenen Verhaltens – wieder neu auf Arbeitssituation und beteiligte Personen einzulassen. Er profitiert enorm von der kontinuierlichen und differenzierten Rückmeldung: Lob kann er selbstwertdienlich verarbeiten, sein Misstrauen reduzieren. Impulsives Verhalten kann er vermindern, nachdem ihm dessen Wirkung auf andere bewusster wird. Die Anerkennung körperlicher Belastungsgrenzen fällt Herrn G nicht leicht, gelingt aber im Verlauf.

Berufswegeplanung. Unter Einbezug der Fremd- und Selbsteinschätzung, von Wünschen und Interessen sowie der sozialmedizinischen Beurteilung wird im Dialog mit dem Rehabilitanden ein ressourcenorientiertes berufliches Profil entwickelt. Stärken sind seine Motivation und Verlässlichkeit. Ihm liegen praktische, sachbezogene Tätigkeiten, bei denen Herr G. Routine entwickeln kann. Er zeigt einen hohen Qualitätsanspruch und Identifikation mit seiner Aufgabe. Schwere körperliche Arbeit ist auszuschließen. Die Langzeitbeobachtung zeigt, dass die tägliche Belastungsgrenze bei sechs Stunden liegt. Mit Unterstützung des Integrationscoaches findet Herr G. Betriebe, die ihm Erprobungen ermöglichen. Mit jedem Praktikum wird sein berufliches Profil deutlicher. Der letzte Praktikumsbetrieb übernimmt ihn direkt in ein Arbeitsverhältnis.

Wohnbereich. Da die tägliche Anfahrt vom Wohnort zur ganztags ambulanten RPK nicht möglich ist, nutzt Herr G. den dafür vorgesehenen Wohnbereich. Für den Rehabilitanden ist auch das soziale Lernfeld „Wohngemeinschaft“ von unschätzbarem Wert: Er übt, Kontakt zu knüpfen und zu pflegen, sich abzustimmen, Konflikte anzusprechen und Kompromisse zu schließen. Die pädagogische Mitarbeiterin der RPK muss anfangs oft moderieren, kann sich aber immer weiter zurücknehmen. Die Freundschaft zu einem Mitbewohner besteht über die Reha hinaus.

Zeit. Psychisch kranke Menschen mit komplexen Funktions- und Teilhabebeeinträchtigungen benötigen Zeit, um die hier beschriebenen, weitreichenden Entwicklungen vollziehen zu können. Herr G. besucht die RPK insgesamt 18 Monate, eine für die RPK-Gesamtmaßnahme durchaus typische Dauer.

Wenn Sie bei der Lektüre dieses Beitrags nicht erkennen konnten, wo die medizinische Rehabilitation aufhört und die berufliche Rehabilitation beginnt, ist die RPK-Idee implizit deutlich geworden!

Bei Herrn G. erfolgte der formale Wechsel von medizinischer zu beruflicher RPK-Phase nach neun Monaten (die Dauer der Phasen kann von Fall zu Fall variieren). Unabhängig davon erhielt er stets die notwendigen Behandlungs- und Trainingselemente, um die nächsten Teilschritte zu erreichen und seinen Teilhabezielen näher zu kommen. Dies entspricht dem fachlichen Gebot sowie der gesetzlichen Anforderung nach Personenzentrierung und Individualität einer Rehabilitation in bester Form und könnte auch wegweisend für andere Maßnahmen sein.