Handlungspflicht des Gesetzgebers zum Schutz von Menschen mit Behinderung in Pandemiezeiten

"In einer Situation, in der sie sich selbst nicht schützen können, sind Menschen mit Behinderungen vor erkennbaren Risiken für höchstrangige Rechtsgüter derzeit nicht wirksam geschützt."

Orientierungssätze*
1. Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergibt sich das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung und ein Auftrag des Staates, Menschen wirksam vor Benachteiligungen wegen ihrer Behinderung zu schützen; in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit kann sich der Auftrag zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten.
2. Für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage muss der Gesetzgeber geeignete wirksame Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Benachteiligungen treffen; hierbei hat er grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum.
BVerfG, Beschluss v. 28.12.2021, Az.: 1 BvR 1541/20
* Leitsätze oder Entscheidungsgründe des Gerichts bzw. Orientierungssätze nach JURIS, redaktionell abgewandelt und gekürzt

Sachverhalt und Entscheidungsgründe

Die vorliegende Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage des gesetzgeberisch sicherzustellenden Schutzes von Menschen mit Behinderungen für den Fall einer im Verlauf der Coronavirus-Pandemie auftretenden Triage. Eine Triage kann dann in Betracht kommen, wenn weniger überlebenswichtige medizinische Behandlungsressourcen zur Verfügung stehen als für Patientinnen und Patienten erforderlich wären. Die Beschwerdeführenden legen dar, dass sie aufgrund ihrer Behinderung sowie ihres Assistenz- und Unterstützungsbedarfs durch die Pandemie besonders stark gefährdet seien. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen sie, dass der Gesetzgeber das Benachteiligungsverbot bzw. den Schutzauftrag aus Art. 3  Abs. 3 S. 2 GG und auch die Anforderungen aus Art. 25 UN-BRK verletze, weil er für den Fall einer Triage nichts unternommen habe, um sie wirksam vor Benachteiligung zu schützen. Handele der Gesetzgeber nicht, drohe ihnen zudem die Verletzung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und ihrer Rechte auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG). Diese Gefahr einer Benachteiligung hat das BVerfG bestätigt, die Verfassungsbeschwerde sei begründet. Es stützt sich dabei auf die im Verfahren eingeholten sachkundigen Einschätzungen, Stellungnahmen und fachlichen Handlungsempfehlungen. Daraus ergebe sich, dass Menschen mit Behinderungen vor erkennbaren Risiken für höchstrangige Rechtsgüter in einer Situation, in der sie sich selbst nicht schützen können, derzeit nicht wirksam geschützt seien. So sei u. a. nicht auszuschließen, dass eine Behinderung pauschal mit schlechten Genesungsaussichten verbunden werde und dies in der Folge zu Benachteiligungen bei Ressourcenzuteilungen führen könne. Eine Entscheidung nach der Überlebenswahrscheinlichkeit bei der jeweils akuten Krankheit sei zwar grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich, nicht aber eine Entscheidung nach der langfristigen Lebenserwartung. In einer solchen Situation verdichte sich der staatliche Schutzauftrag zu einer konkreten Handlungspflicht. Demgegenüber bestehen nach Feststellung des BVerfG bislang keine gesetzlichen Vorgaben für Triage-Situationen und auch sonst keine hinreichenden Vorkehrungen zum wirksamen Schutz vor Benachteiligungen. Der Gesetzgeber müsse daher unverzüglich tätig werden. Bei der Ausgestaltung des Schutzes habe er allerdings einen Spielraum. So könne er beispielsweise materielle Maßstäbe für die Triage und auch Vorgaben für das Verfahren festlegen, z. B. das Mehraugenprinzip und Dokumentationspflichten.
Die BVerfG-Entscheidung unterstreicht die Bedeutung des völkerrechtlich, grund- und einfachgesetzlich verankerten Ziels der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und des Anspruchs auf Schutz vor Diskriminierung. Hierbei würdigt das Gericht ausdrücklich die mit dem BTHG und dem Teilhabestärkungsgesetz intendierten Anpassungen an die UN-BRK, konstatiert für die Situation der pandemiebedingten Triage jedoch zugleich ein Fehlen hinreichend wirksamer Vorkehrungen zum Diskriminierungsschutz. Solche Vorkehrungen zeitnah auszugestalten, bleibt dem Gesetzgeber überlassen. Ein Regierungsentwurf für ein „Triage-Gesetz“ liegt bereits vor.