Digitale Teilhabe ist soziale Teilhabe

Eine klare Vision und eine politische Agenda sind unabdingbar

Digitale Angebote bestimmen zunehmend unseren Alltag und unsere Arbeitswelt. Diese digitale Welt kann bereichernd sein. Viele Dinge lassen sich mithilfe von Computern und Automaten erledigen: Fahrkarten kaufen, Geld überweisen, Theaterkarten bestellen, einkaufen. Es gibt kaum noch etwas, was sich nicht online erledigen lässt.

Die Situation dürfte Bahnreisenden bekannt sein: Wer eine Fahrkarte am Automaten kauft, ist meistens in Eile. Das Ziehen eines Ti-ckets kann dann schnell in Hektik ausarten. Erfreulich, wenn die Bedienung einfach und intuitiv ist. Denn vor allem für blinde und sehbehinderte Menschen, aber auch für Menschen mit feinmotorischen Einschränkungen ist die barrierefreie Bedienung eines Fahrkartenautomaten unerlässlich.

Aber schon Kleinigkeiten können hierbei wie in vielen anderen Alltagssituationen zu digitalen Barrieren führen: Fehlender Kontrast zum Hintergrund führt zu unlesbaren Texten, eine unverständliche Erklärung zur Bedienung einer Software kann schnell frustrieren oder ein zu klei-ner Button am Smartphone wird immer wieder verfehlt. Kommen dann noch eine kognitive Einschränkung oder eine Körperbehinderung hinzu, werden einige digitale Barrieren unüberwindbar. Dann droht die Gefahr, dass die digitale Spaltung (verwendet wird oft der englische Ausdruck „digital gap“) vor allem für Menschen mit Behinderungen immer gravierender wird.

Dabei ist der Trend zum digitalen Transfer unübersehbar und – in gesellschaftlicher wie in politischer Hinsicht – alternativlos. 94 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren ist laut einer Onlinestudie von ARD und ZDF zumindest gelegentlich online. Vor allem auch ältere Zielgruppen ab 60 Jahren sorgen hier für Zuwachs. Im Durchschnitt verbringen Deutsche fast dreieinhalb Stunden täglich im Internet, bei den Unter-30-Jährigen sind es sogar sechseinhalb Stunden. Doch Digitalisierung muss von Anfang an nutzerfreundlich und barrierefrei gedacht werden, damit vor allem auch Menschen mit Behinderungen und ältere, weniger digitalaffine Generationen von dieser Entwicklung profitieren können.

Corona als Digitalisierungstreiber

Niemand konnte voraussehen, welche wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen die Corona-Krise mit sich bringt und dass der globale Umgang mit der Pandemie ein Dauerthema bleiben wird. Gerade auch die Strategien zur Eindämmung der Pandemie haben im Zuge der Corona-Krise mit dem „social distancing“ zu einem außergewöhnlichen Schub bei der Weiterentwicklung digitaler Technik in allen Lebensbereichen gesorgt. Das Abstandhalten wurde zu einem Sinnbild des gesellschaftlichen Miteinanders. Begegnungen am Arbeitsplatz, in der Schule und in der Freizeit fielen weg oder wurden drastisch reduziert. Soziale Medien sind als fes-ter Bestandteil der Kommunikation und Kontaktpflege, der Information oder auch der Unterhaltung nicht mehr wegzudenken. Die Kompensation durch virtuelle Begegnungen ist mittlerweile Stand der Technik, Videokonferenzen über Zoom, GoToMeeting oder Jitsi sind vielen Menschen geläufig und tägliche Routine. Das zeigt aber auch: Digitale Teilhabe ist soziale Teilhabe. Und wer beispielsweise Online-Infrastrukturen nicht nutzen kann, ist von vielen Angeboten und Strukturen der Gesellschaft ausgeschlossen. Menschen mit Behinderungen haben oftmals keinen selbstverständlichen Zugang zu Technik, Internet und digitalen Möglichkeiten. Die Teilhabe an dieser schönen, neuen digitalen Welt, mit Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, wie beispielsweise Arbeitsleben, Gesundheit, Freizeit und Handel, ist dann ausgeschlossen. Das heißt: Behinderung und Lebenswelt bestimmen die Möglichkeiten der digitalen Teilhabe und damit auch der gesellschaftlichen Teilhabe überhaupt.

Chancen und Risiken

Die Chancen liegen auf der Hand: Digitale Technik kann zu mehr Autonomie führen, etwa bei der Verbesserung der Mobilität im Alltag. Blinde und mobilitätseingeschränkte Menschen profitieren von Spracherkennungssoftware und die Vernetzungsmöglichkeiten in den sozialen Medien eröffnen vielen Menschen mit Behinderungen mehr Möglichkeiten der Partizipation und der Präsenz im öffentlichen Raum. Auch der Einsatz digitaler Technik im Bildungsbereich eröffnet neue Optionen zur Erweiterung von Wissen und Kompetenzen. Aber die Digitalisierung birgt auch ihre Risiken. So kann digitale Technologie ohne Frage dabei helfen, Barrieren abzubauen und Teilhabe zu ermöglichen. Wenn jedoch von Anfang an digitale Lösungen nicht barrierefrei gedacht werden, ist die Gefahr groß, dass die im Nachhinein nötige barrierefreie Anpassung von digitaler Technik der immer rasanteren Entwicklung zum Opfer fällt. Auch besteht die Gefahr, dass die Digitalisierung zu wachsender Ungleichheit führt. Menschen mit Behinderungen können sich die Anschaffung notwendiger Geräte oft schlichtweg nicht leisten. Es ist noch viel Wissensvermittlung notwendig, um Menschen mit Behinderungen (und nicht nur ihnen) einen souveränen Umgang mit digitalen Medien zu gewährleisten, mal ganz abgesehen vom aktuellen Implementierungsstau neuer Technologien in Deutschland.

Wer Online-Infrastrukturen nicht nutzen kann, ist von vielen Angeboten und Strukturen  der Gesellschaft ausgeschlossen.

Umsetzung der EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit

Mit dem am 20. Mai 2021 vom Bundestag verabschiedeten Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sollen zur weiteren Inklusionsförderung die barrierefreie Gestaltung unter anderem des Online-Handels, von Hardwaresystemen wie Bankautomaten, Tablets oder Kartenlesegeräten, die dazugehörige Software und mehr verbessert werden. Damit die Richtlinie für Unternehmen und Anbieter verbindlich wird, muss sie bis zum 28. Juni 2022 in nationales Recht umgesetzt werden. In Deutschland wird die Umsetzung des European Accessibility Acts durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz geregelt. Es stellt erstmals grundlegende Anforderungen an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen auf und wird erhebliche Auswirkungen auf Hersteller im Bereich der Informa tions- und Kommunikationstechnologie sowie den Online-Handel haben.

Allerdings hat die Verabschiedung des Gesetzes bei den Behindertenverbänden und den betroffenen Menschen für Kritik gesorgt. Besonders die Ausnahmeregelungen und die langen Übergangsfristen werden bemängelt. Bankautomaten beispielsweise, die bis 2025 neu installiert werden, müssen erst bis 2040 barrierefrei umgerüstet werden. „Mit derart langen Übergangsfristen kommen wir einer inklusiven Gesellschaft nur im Schneckentempo näher“, kritisiert denn auch die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele. Das haben SPD, die Grünen und die FDP ebenfalls erkannt und in ihrem Sondierungspapier festgehalten: „Wir wollen einen grundlegenden Wandel hin zu einem ermöglichenden lernenden und digitalen Staat, der vorausschauend für die Bürgerinnen und Bürger arbeitet.“ An Digitalisierung kann und will niemand vorbei. Soziale Teilhabe durch Digitalisierung braucht aber eine klare Vision und eine politische Agenda, sie ist mit der Frage verbunden, wie inklusiv eine Gesellschaft sein will und wie digitale Technik dabei unterstützen kann.