Wie erleben Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung die Pandemie sowie die Maßnahmen gegen SARSCoV-2?

Zunächst einmal könnte man diese Frage beantworten mit: auch nicht viel anders als gut Hörende. Aber das ist es nur auf den ersten Blick. Lassen Sie mich folgendermaßen beginnen: im Rahmen des gesundheitspolitischen Krisenmanagements seit Bekanntwerden der Pandemie in Deutschland, wurden interdisziplinäre Teams gebildet, die Expert*innen kamen zuallererst aus Politik und Medizin. Viel zu wenig einbezogen wurden Menschen mit Beeinträchtigungen – sehr oft auch Expert*innen der eigenen Lebensbedingungen. Der Maßstab für das Krisenmanagement und die einzusetzenden Maßnahmen war und ist der Mensch ohne Beeinträchtigungen. Was sagt das über den Stand einer inklusiven Gesellschaft? Will eine Gesellschaft inklusiv sein, müssen die Mitglieder ihr Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen schärfen sowie die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde fördern – wie es Artikel 8 der Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen verpflichtend vorsieht. Die wichtigsten Kennzeichen einer inklusiven Gesellschaft sind Barrierefreiheit, Gleichstellung, Bewusstseinsbildung und Teilhabe. Die Pandemie hat zuallererst die Gesellschaft getroffen und die Teilhabe eingeschränkt; SARS- CoV-2 wirkte und wirkt wie eine Lupe und zeigt deutlich: Menschen mit Beeinträchtigungen werden nicht konsequent genug mitgedacht. Ebenso wie ich haben sich bestimmt viele Hörbeeinträchtigte die gleichen Fragen gestellt: Kann ich meine Ärztin oder meinen Arzt per Mail oder über einen Nachrichtendienst kontaktieren? Kann ich eine Videosprechstunde oder eine Videokonferenz bewältigen und welche Alternativen gibt es dazu? Wenn ich es nicht kann, warum muss ich das immer wieder erklären? Obwohl meine Umgebung von meinem Handicap weiß? Was sagt mein Arbeitgeber, wenn ich nicht gut telefonieren kann und auch nicht von Videokonferenzen etc. profitiere? Wer übernimmt die Kosten, wenn ich einen Dolmetscherdienst brauche? Und zwar sehr oft? Wie soll das denn gehen, wenn die Welt einen Nasen- Mund- Schutz trägt? Was brauche ich an erfolgreicher Verständigung, um selbst verantwortungsvoll handeln zu können?

Fast alle Personen mit einer Beeinträchtigung des Hörens brauchen für erfolgreiche Verständigung das komplette Gesicht ihrer Gesprächspartner*innen. Die „Masken“ und das „Nuscheln hinter den Masken“ erschweren natürlich die Kommunikation sehr. Das, was Menschen mit Hörbeeinträchtigung z.B. immer wieder in Krankenhäusern erleben, erleben sie jetzt überall: Menschen mit Masken nicht ausreichend zu verstehen. Hilfreich sind durchsichtige Visiere – aber die werden noch zu wenig getragen. Gerade gut hörende Personen wissen nicht, was diese erschwerte Kommunikation mit hörbeeinträchtigten Menschen macht. Das „Nicht- Verstehen“ ist ja nur ein Aspekt. Zwei andere sind die ungeheure Anstrengung, zu verstehen und mitzukommen sowie die ständig erhöhte Konzentration. All dem folgt große Erschöpfung. Gerade Menschen mit Beeinträchtigungen können gut erklären, welche Probleme eine gesundheitspolitische Krise mit sich bringt – weil sie in aller Regel wissen, was eine Krise ist. Inklusives Krisenmanagement und konsequente Interdisziplinarität wären Schritte in die richtige Richtung. Hoffen wir, dass es Verantwortliche gibt, die Menschen mit Beeinträchtigungen in Zukunft generell in ihre Planungen einbeziehen.

Was gibt es anschließend Positives zu sagen? Nun, aktuell sprechen so viele Menschen hinter ihren Masken so laut, man könnte annehmen, man sei von Menschen mit Hörbeeinträchtigung umgeben. SARS- CoV- 2 hat uns alle getroffen; sehr viele Menschen geben sich große Mühen, damit wir gut durch diese Krise kommen. Und die, die sich keine Mühe geben, die hat es schon immer gegeben.

Martina Müller gehört zur Gruppe der schwerbehinderten Menschen. Sie lebt mit einer Autoimmunerkrankung sowie einer leichten Gehbehinderung und trägt – nach einer vollständigen Ertaubung – Cochlea Implantate. Als Erziehungswissenschaftlerin und Pädagogin leitet sie das BEL. Beratungszentrum Ess-Störungen Leipzig, ist Vorstandsfrau des Vereins „Leben mit Handicaps“ und wird in diesem Kontext bundesweit als Referentin für inklusiven Kinderschutz und das Thema „Selbstbestimmte Elternschaft mit Behinderung“ angefragt.