Zum Begriff der "Behinderung" und zum Begriff der "angemessenen Vorkehrungen"

Orientierungssätze*
1. Eine Kündigung, die einen Arbeitnehmer, gemessen an den Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) diskriminiert und auf den das Kündigungsschutzgesetz (noch) keine Anwendung fi ndet, ist unwirksam.
2. Eine symptomlose HIV-Infektion hat eine Behinderung im Sinn der (i.S.d.) AGG zur Folge. Dies gilt so lange, wie das gegenwärtig auf eine solche Infektion zurückzuführende soziale Vermeidungsverhalten sowie die darauf beruhenden Stigmatisierungen andauern.
BAG, Urteil vom 19.12.2013, Az.: 6 AZR 190/12
*Leitsätze des Gerichts, redaktionell abgewandelt.


Sachverhalt und Entscheidungsgründe

Der an einer symptomlosen HIV-Infektion erkrankte Arbeitnehmer wurde von einem Arzneimittelhersteller für eine Reinraumtätigkeit eingestellt. Bei seiner Einstellungsuntersuchung wies der Kläger auf die Infektion hin. Der Betriebsarzt äußerte Bedenken gegen einen Einsatz im Reinraum. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis umgehend, weil sie den Kläger nicht einsetzen könne. Laut BAG ist diese Kündigung eine unterschiedliche Behandlung wegen einer Behinderung im Sinn von §§1, 3 AGG, die nach § 7 AGG grundsätzlich verboten ist. Allerdings steht noch nicht abschließend fest, ob die Kündigung hier ggf. nach § 8 AGG wegen Bestehens wesentlicher und angemessener berufl icher Anforderungen gerechtfertigt ist. Das LAG – als Tatsacheninstanz
– muss noch aufklären, ob die Beklagte durch „angemessene Vorkehrungen“ entsprechend der EU-Richtlinie 2000/78/EG bzw. der UN-BRK den Einsatz des Klägers hätte ermöglichen können.
Eine Behinderung i.S.d. AGG liegt nach BAG jedenfalls vor, wenn sich bei Krankheit Auswirkungen auf die Teilhabe in einem oder mehreren Lebensbereichen zeigen. Eine solche Teilhabebeeinträchtigung ergibt sich in Anlehnung an die ICF erst aus dem Zusammenwirken von Barrieren und individueller Gesundheitsstörung. Zudem ist bei Anwendung des AGG der Behinderungsbegriff der EU-RL 2000/78/EG und der UN-BRK zugrunde zu legen, soweit der nationale Behinderungsbegriff hinter dem internationalen Begriffsverständnis zurück bleibt. Demzufolge liegt eine Behinderung bereits dann vor, wenn Teilhabebeeinträchtigungen eintreten „können“. Im Ergebnis ist bei einer HIV-Erkrankung eine Behinderung als Folge einer (auch nur möglichen) Stigmatisierung und Ungleichbehandlung anzunehmen.
Die vom Arbeitgeber zu treff enden „angemessenen Vorkehrungen“ umfassen insbesondere zumutbare (organisatorische) Maßnahmen, mit denen Menschen mit
Behinderung nicht zuletzt der Zugang zur Beschäftigung ermöglicht werden soll. Bei
der Prüfung der Zumutbarkeit von Maßnahmen einzubeziehen sind zum Beispiel der
fi nanzielle und sonstige Aufwand, Größe und Finanzkraft des Arbeitgebers sowie etwaige Möglichkeiten der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel.