Partizipation - Neue Qualität der Mitbestimmung

Geht es um die Frage der Partizipation und aktiven Beteiligung von Menschen mit Behinderung, sind noch viele Fragen offen. Vieles bleibt vage, noch längst ist nicht alles umgesetzt: Wie können die  verschiedenen Interessen der Beteiligten bei der Entscheidungsfindung (etwa bei Teilhabeleistungen) adäquat berücksichtigt werden? Auf welche Weise können Risiko, Unsicherheit und Unwissen bei partizipativen Entscheidungen berücksichtigt werden? Wie geht man mit Konflikten zwischen  Stakeholderinteressen und normativen Vorgaben (z.B. Nachhaltigkeit) um? Im Klartext heißt das:  Teilnahme, Mitwirkung und aktive Beteiligung von Menschen mit Behinderung bei konzeptionellen Fragestellungen und der Gestaltung von politischen Prozessen, aber auch innerhalb von Verfahren zur Feststellung von Rehabilitations- und Teilhabebedarf und bei Entscheidungen im Leistungsgeschehen.

Der Grundsatz „Nicht ohne uns über uns“ macht die mit der UN-BRK gestärkte Prämisse der aktiven Beteiligung deutlich. Partizipation hat also nicht nur Auswirkungen auf den Einzelnen, sondern auch auf die Gestaltung von Politik, insbesondere in den Bereichen, die behinderte Menschen unmittelbar betreffen. In dieser Hinsicht knüpft das Konzept der Partizipation an das Konzept der Inklusion an: Die gleichberechtigte Partizipation aller Menschen an der Gesellschaft ist nur dann möglich, wenn die  Lebenssituationen aller Menschen von Anfang an beachtet und alle beteiligten Akteure einbezogen werden. So weit, so gut, so unstrittig. Zwar sind Partizipation und Mitbestimmung als Handlungs- und Strukturprinzip der Teilhabeplanung von Menschen mit Behinderung in einschlägigen Gesetzen und  Aktionsplänen verortet, aber es fehlen Verbindlichkeit, Koordination und praktische Umsetzung. So kritisiert etwa der Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, dass dieser Klientel „keine sinnvolle und wirksame Partizipation an Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, garantiert  wird“. Das bedeutet: Es gibt viele gute Impulse und es gibt Regelungen, die in der Praxis aber „noch“ nicht ausreichend zur Anwendung kommen.

Politische Dimension

Partizipation ist ein entscheidendes Anliegen der UN-BRK. Sie will die "volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft" für alle Menschen mit Behinderung erreichen. Das ist das Ziel, von dem sich die staatlichen Verpflichtungen und die Verantwortlichkeiten der Zivilgesellschaft ableiten. So hatte auch der erste Nationale Aktionsplan (NAP) der Bundesregierung seinen Schwerpunkt auf geeignete Maßnahmen gelegt, "Lücken zwischen Gesetzeslage und Praxis zu schließen". Mit dem Ende Juni 2016 beschlossenen NAP 2.0 soll nun Inklusion als universelles Prinzip in alle Lebensbereiche Einzug halten. Hierzu sollen wichtige Rechtssetzungsvorhaben und die Überprüfung einzelner zentraler Rechtsakte beitragen. Die Reform der Eingliederungshilfe mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG), die beabsichtigten Änderungen des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) und die Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts seien für diesen Ansatz beispielhafte Vorhaben, heißt es in der Kurzfassung.
Klar ist aber: Nichts geht ohne die rechtliche Basis, so Christiane Möller vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen.

›› Ganz zentral ist ein einheitliches Rehabilitationsrecht. Dafür braucht es ein hohes Maß an Verbindlichkeit der Regelungen im ersten Teil des SGB IX, wobei wirklich alle Rehabilitationsträger gleichermaßen eingebunden sein müssen. Und es bedarf des Willens aller Rehabilitationsträger zusammenzuarbeiten und Leistungen aufeinander abzustimmen. Die Erarbeitung und Anwendung gemeinsamer Empfehlungen unter dem Dach der BAR ist ein wichtiges Instrument. Aber es gibt auch noch deutlich Luft nach oben, gerade in Punkto Zusammenarbeit bei Fallkonstellationen, bei denen mehrere Träger beteiligt sind. ‹‹

Ein gutes Beispiel ist auch das Persönliche Budget. Hier wird der Mensch mit Behinderung schon durch seine „Arbeitgeberrolle“, bei der Entscheidung über das notwendige Teilhabebudget bis zur Auswahl der Dienstleister in einem Höchstmaß beteiligt. Gesetzlich verankerte Normen und Regeln sind zwar grundlegend, müssen in der Praxis aber auch gelebt werden, aktiv und individuell. Denn Partizipation ist nicht nur ein Recht, es muss auch eingefordert werden. Eine unabhängige Lebensführung beruht auf individuellen Rechten. Es muss der Schritt von der hierarchischen zur partizipativen Steuerung unternommen werden. Der Wandel von hierarchischer zu partizipativer Steuerung bezieht sich also nicht nur auf eine politische Dimension, vielmehr spielen auch die heterogenen Aspekte von Partizipation in sozialräumlich orientierten Planungs- und Gestaltungsprozessen eine entscheidende Rolle. Hier geht es um die Orientierung an den Interessen und am Willen der Menschen, um die Konzentration auf die Ressourcen der Menschen und des Sozialraums, um die Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe. Welche Teilhabeleistungen zielführend sind und wann und wie sie durchgeführt werden, lässt sich nur beantworten, wenn gemeinsam alle sozialräumlichen Aspekte abgewogen werden. So spielen z. B. Wohnort, Alter, Lebensbedingen, Bildungsniveau oder auch die soziale Eingebundenheit eine entscheidende Rolle, wenn es um Partizipationsmöglichkeiten geht. Hier müssen auch die Bezugspersonen stärker in den Blick genommen werden. Ob bei der Antragsstellung, in der Reha-Einrichtung oder bei der Organisation von Nachsorge- Leistungen: Der Partner, die Partnerin, die Eltern, Kinder oder auch andere Bezugspersonen sind häufig entscheidend im Reha-Prozess. Es braucht ein funktionierendes soziales Umfeld, wie die ehemalige Rehabilitandin Kim-Vanessa Mathes weiß:

›› Was einem am meisten hilft ist Beistand. Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass man ohne soziales Umfeld verloren ist: Es braucht jemanden, der für einen kämpft. ‹‹

Die auf dem bio-psycho-sozialen Modell basierende ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) ist ein geeignetes Instrument, um auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in all ihren Facetten zu fokussieren. Und damit die Wechselwirkungen zwischen Individuum, Gesundheitsproblem und den Kontextfaktoren zu beleuchten. Das fördert die Transparenz unter den am Entscheidungsprozess für geeignete Teilhabeleistungen beteiligten Personen, besonders auch im Hinblick auf die rechtliche und ethische Notwendigkeit einer Partizipation der Menschen mit Behinderung.

Partizipation braucht Handlungsspielräume

›› Partizipation bedeutet nicht nur „Teil-NAHME“ (=Erwartung) sondern auch „Teil-HABE“ (=Recht), folglich die Entscheidungsmacht bei allen wesentlichen Fragen der Lebensführung zu haben, ‹‹
so erläutert Prof. Dr. Ernst von Kardoff von der Humboldt-Universität in Berlin.
›› Um individuelle Entscheidungen in der Praxis zu ermöglichen, sind gemeinsame Aushandlungsprozesse zwischen Reha-Träger und Rehabilitand erforderlich. Erst eine intensive Kommunikation und weite Handlungsspielräume machen eine partizipative Entscheidungsfindung möglich. ‹‹

Denn die Mehrwerte einer Stärkung der Partizipation von Menschen mit Behinderung im Leistungsgeschehen liegen auf der Hand: Die Passgenauigkeit in der Leistungsgewährung sowie der Leistungserfolg werden durch aktive Beteiligung und Mitwirkung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden gefördert. Zudem steigt die Motivation durch Ernstnehmen und aktives Einbeziehen. Um Partizipationsprozesse zielgerichtet umzusetzen, müssen die einzelnen Akteure ihre binnenorientierte Sicht der Dinge weiterentwickeln. Durchaus nachvollziehbare Einzelperspektiven sollten nicht die Kooperation und wechselseitige Abstimmung mit anderen Akteuren verhindern. Vielmehr geht es darum, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, Entscheidungsprozesse zu definieren/ koordinieren und auf die Person auszurichten, um passgenaue Lösungen bezogen auf den jeweiligen Menschen mit Behinderung finden zu können. Im Sinne einer „vernetzten Reha“ spielt auch der ergänzende Einsatz von Technik eine Rolle. Dabei geht es nicht nur um technische Unterstützung im klassischen Sinn, wie etwa um Rollstühle oder Steuerungssysteme. Vielmehr geht es auch um Produkte und Software, die Menschen mit Behinderung dabei helfen, Informationen aufzunehmen und zu kommunizieren. Denn jede Form des direkten Austauschs mit anderen Menschen kann dazu beitragen, sich aktiv einzubringen. Stichwort: Kommunikation in leichter Sprache. Gerlinde Bendzuck von der Landesvereinigung Selbsthilfe Berlin e.V. beschreibt das so:

›› Mit der technischen Unterstützung, dem Modell der Reha 4.0, werden Reha-Abläufe nutzerfreundlicher, partizipativer und ergebnisorientierter! Davon würden auch Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten profitieren. ‹‹

Partizipation im gemeinsamen Dialog – Beratung als partizipativer Aushandlungsprozess

Beratung ist nicht nur einseitige Informationsvermittlung, sondern das Ausloten von Möglichkeiten und Notwendigkeiten zwischen Bedarf und möglichen Leistungen, bei dem der Hilfesuchende ein Höchstmaß an Partizipation erfährt. Beratung hat daher ein hohes Potenzial zur verstärkten Einbeziehung behinderter Menschen und ihrer Bezugspersonen in den Reha-Prozess, das noch längst nicht ausgeschöpft ist. Das gilt auch im Bezug zu neuen Kommunikationswegen, wie z. B. dem Internet. Stärkung der Eigenkompetenz und Förderung der Eigeninitiative, Informationen über Beteiligungsrechte, Ressourcen und Unterstützungsleistungen, lassen sich nur auf der Basis von Wissen einsetzen. Generiert durch Weiterentwicklung und gute Beratung, die sich auch in den Aktivitäten der BAR und ihrer Mitglieder niederschlagen.

›› Um Partizipation zu ermöglichen, ist eine umfassende Beratung ein wesentlicher Baustein. Hier haben wir uns in der IKK Nord auf den Weg gemacht. Unser Ziel ist es, mit angepassten Organisationsformen und zusätzlichen Beratungsressourcen die vorhandene eigenständige Sozial- und Gesundheitsberatung zu stärken, um unsere Versicherten auf ihren Reha-Pfaden zu begleiten, ‹‹
erläutert Jürgen Janetzek von der IKK Nord.

Und Mathilde Schulze-Middig von der Bundesagentur für Arbeit (BA) ergänzt:
›› Beratung wird in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen und bei der BA einen zentralen Schwerpunkt bilden. Dabei müssen auf der einen Seite die gesetzlichen Rahmenbedingungen und auf der anderen Seite die Philosophie der Personenzentrierung in den Blick genommen werden. Dies ist ein anspruchsvolles aber notwendiges Ziel, welches wir mit neu ausgerichteter Präsenzberatung und ergänzenden Online-Angeboten erreichen wollen. ‹‹

Um den Forderungen der UN-BRK, dem Selbstverständnis der Zivilgesellschaft und den Rechten von Menschen mit Behinderung gerecht zu werden, bedarf es einer partizipativen Struktur, einer inklusiven Kultur und der politischen Aktivität, die ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen und unterstützen müssen. Und im Idealfall: Ein funktionierendes soziales Umfeld.

Alle Zitate in diesem Beitrag entstammen dem BAR-Fachgespräch 2016, über das wir auf den folgenden Seiten berichten.