"Es muss immer etwas Individuelles dabei herauskommen"

Berufliches Reha-Ziel: Als blinde Logopädin arbeiten

Friederike Scherret ist angestellte Logopädin in einer Praxis im badischen Sinzheim. Der Kontakt zu ihrer heutigen Arbeitgeberin Birgit Kappler ist 2015 über ein Praktikum im Rahmen der Ausbildung entstanden. Bereits damals haben beide, gemeinsam mit der Berufsfachschule, Neuland betreten: Friederike Scherret ist bundesweit die erste blinde Absolventin in diesem Beruf.

Das Medizinstudium in ihrer Heimatstadt Berlin hatte sie abbrechen müssen, als sie unerwartet schnell durch eine Erkrankung ihr Augenlicht verlor. Sie musste sich neu orientieren. Während der Zeit ihrer blindentechnischen Grundausbildung wurde ihrem kleinen Sohn Logopädie verordnet. So entstand ihr Wunsch, Logopädin zu werden und damit die Möglichkeit, weiter im medizinischen Bereich arbeiten zu können. In Baden-Baden fand Friederike Scherret eine Logopädie-Schule, die bereit war sie auszubilden.
Schule und Mitschülerinnen unterstützten sie als klar wurde, dass sie für die Ausbildung keine Assistenz oder weitere Förderung durch die Agentur für Arbeit erhalten würde: Die logopädische Tätigkeit wurde für blinde Menschen als „nicht leidensgerecht“ eingestuft. Erst nachdem sie die dreijährige Ausbildung mit der Note 1 abgeschlossen hatte, erstritt sich die junge Frau die Schulgeld-Erstattung.
Obwohl ein erstes Jobangebot schnell gefunden war, scheiterte der Berufseinstieg zunächst am Eingliederungszuschuss. Die Bewilligung zog sich hin. Ihre vorherige Praktikumsgeberin, Birgit Kappler, bot ihr dann an mit 15 Wochenstunden in ihrer Praxis einzusteigen. „Von dort an ging Vieles leichter“, sagt Friederike Scherret rückblickend. Zu einem Vor-Ort-Termin für die Arbeitsplatzgestaltung in der Logopädie-Praxis Kappler kamen das Integrationsamt, der Integrationsfachdienst, der technische Beratungsdienst der Arbeitsagentur und ein Hilfsmittelanbieter. Dass die Akteure in einer Region kooperieren, sei leider nicht überall in Deutschland der Fall. Gute Kommunikation bedeutet für Scherret, dass deren Mitarbeiter sie und ihre Rahmenbedingungen persönlich kennen und begreifen können, worum es geht. Bei der Teilhabe am Arbeitsleben behinderter  Menschen dürfe nicht in starren Kategorien gedacht werden, alle Seiten müssten flexibel sein. „Letztlich muss ja immer etwas Individuelles dabei herauskommen“.
Die sieben Logopädinnen in der Praxis Kappler arbeiten bei der Betreuung einzelner Patienten weitgehend unabhängig voneinander. Friederike Scherret hat ein festes Behandlungszimmer mit einem geräumigen Schrank für ihre Therapiematerialien. Bildkarten werden z.B. zusätzlich mit Braille-Schrift beklebt, zur Farberkennung dient ein spezielles Gerät. Für ihren Computer hat sie eine Braille-Zeile und eine Sprachausgabe-Software. Den Arbeitsweg legt sie mit ihrem Blindenhund zurück. Sie hat sich gut eingerichtet. Aber auch nach zweieinhalb Jahren Berufstätigkeit ist sie in vielerlei Hinsicht auf ihre Arbeitsassistenz angewiesen – sei es die Erschließung neuer Materialien, die Überprüfung gedruckter Verordnungen oder die Aufsicht über ihre jungen Patienten.
Inzwischen hat Friederike Scherret ihre wöchentliche Arbeitszeit auf 21 Stunden erhöht. Dennoch ist klar, dass sie nicht die gleiche Therapiefrequenz erreichen kann wie ihre sehenden Kolleginnen. Aus wirtschaftlicher Sicht ist daher langfristig ein Beschäftigungssicherungszuschuss vom Integrationsamt erforderlich. Die bedarfsgerechte Bemessung der Leistungen, welche Friederike Scherret die Ausübung ihres Berufes ermöglichen, bleibt ein Balanceakt. Sie selbst sieht und kennt die wirtschaftlichen Argumente und wünscht sich doch, nicht als Last wahrgenommen zu werden, sondern als Mensch, der etwas beiträgt: „Ich möchte einfach arbeiten!“

REHADAT-Wissensreihe "Ich sehe das einfach anders" veröffentlicht

Wie können Menschen, die sehbehindert oder blind sind, am Berufsleben teilhaben? Antworten gibt die neueste Broschüre aus der REHADAT-Wissensreihe. Sie beschreibt Möglichkeiten der Arbeitsgestaltung für Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit, liefert Grundinformationen über die Behinderung und nennt Anlaufstellen.

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