Rollstuhlsport als Lebenshilfe

Die Trainingszeiten im TV Mainz-Laubenheim bieten mehr als nur Bewegung

Bordsteine, buckliges Kopfsteinpflaster, Rampen, Gittersteine oder Straßenbahnschienen: Die Hindernisse für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer sind trotz gesetzlicher Vorschriften zur Barrierefreiheit in Deutschland immer noch vielfältig. Da kann ein gutes Training schon viel helfen.

In der Turnhalle des TV Mainz-Laubenheim treffen sich jeden Dienstagabend 15 bis 20 Menschen unterschiedlichen Alters zum Rollstuhlsport. Die Teilnehmenden leiden an den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen, manche sind an Multipler Sklerose erkrankt, andere sind mit Spina Bifida geboren. Es gibt Rollisportlerinnen und -sportler, die nach einem Unfall auf das Hilfsmittel angewiesen sind, andere leiden an der Glasknochenkrankheit. Auch kommen Nervenleiden vor, genauso wie Halbseitenlähmungen oder ganz andere gesundheitliche Probleme, die einen Rollstuhl zwingend erforderlich machen.

Spaß, Alltagsbewältigung und Lebenshilfe

Das Rollstuhltraining bietet Spaß und sportliche Aktivität. Es gehört aber immer auch der Austausch untereinander dazu, wenn man sich beispielsweise über die Hürden des Alltags mit einer Beeinträchtigung austauscht. Die Bedarfe und Bedürfnisse von Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern werden im Alltag gerne übersehen. So kann es vorkommen, dass Teilnehmende in völlig falsch ausgemessenen Rollstühlen sitzen, den Gebrauch dieses Hilfsmittels nie erklärt bekamen und im Gebrauch des Rollis oft jahrelang unnötig überfordert sind. Unser Rollstuhlsport ist gleichzeitig Lebenshilfe, denn wir verstehen einander, können uns gegenseitig aus tiefen seelischen und psychischen Löchern herausholen. Das Thema Depression ist uns allen in der Trainingsgruppe ein Begriff und wir unterstützen uns oft in mentalen Notlagen. Sport ist hier ein idealer Katalysator.

Spielerisches Training

Die Trainingstage sind gut durchgetaktet und abwechslungsreich. So findet an einem Dienstag im Monat ein Techniktraining statt. Dann gilt es, einen Parcours zu meistern und mit dem Rolli Hindernisse zu überwinden. Ziel ist es, das Hilfsmittel so beherrschen zu können, dass die vielen im Alltag auftauchenden Stopps und „No Gos“ weniger Probleme bereiten. Bordsteine, Kopfsteinpflaster, Unebenheiten, wechselnde Untergründe, das alles soll den Spaß an der Bewegung nicht beeinträchtigen. An einem anderen Dienstag im Monat wird an Kondition und Ausdauer gearbeitet.

Hier geht es darum, sich sportlich weiterzuentwickeln und stärker, sicherer und ausdauernder zu werden, damit  auch längere Strecken im Rollstuhl gemeistert werden können. Auch Spiele wie Badminton, Basketball, Handball, Fußball, Zielwürfe oder Slalomfahrten kommen nicht zu kurz. Dafür ist ein Dienstag den Wünschen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer vorbehalten. Sie bestimmen dann, welches Spiel im Rollstuhl sitzend gemeinsam betrieben wird. Hier finden oft kleinere Turniere innerhalb der Trainingsgruppe statt und die Basket- Fuß- oder Handbälle fliegen gezielt und geübt durch die Halle. An den Wunschtrainingstagen wird demokratisch entschieden, was miteinander geübt und gespielt wird.

Getrennte Schicksale – gemeinsame Bewältigung

In unserer Gruppe treffen Menschen mit verschiedensten Schicksalen aufeinander und beweisen, was im Rollstuhl möglich ist. Sie alle profitieren von der Überzeugung, dass der Alltag zu meistern ist und dass wir, auch im Rollstuhl sitzend, unser Leben, unseren Beruf, unsere Familie absolut zufrieden und wertgeschätzt leben und meistern können. Ein Teilnehmer, Sportlehrer und jahrelang aktiver Fußballer, merkte mit etwa 30 Jahren, dass der Mechanismus des Laufens schleichend verloren geht. Eine sehr seltene Erkrankung machte ihm plötzlich
zu schaffen. Mittlerweile sitzt er im Rollstuhl und hat in der Sportgruppe einige depressive Phasen bewältigt und im Austausch beim Trainieren mit anderen Beeinträchtigten neuen Lebensmut gefunden. Heute ist er mit seiner Energie und seinem Humor ein Vorbild für andere. Eine junge Frau stürzte kurz nach dem schriftlichen Abitur so unglücklich auf den Kopf, dass auch sie heute im Rollstuhl sitzt und mehrere Handicaps zu be- und verarbeiten hat. Nach jahrelangem Training ist sie mittlerweile eine ausgezeichnete Rollstuhlfahrerin und eine tolle und geschickte Rollstuhlsportlerin, die sich jeder Aufgabe stellt. Das Abitur hat sie mittlerweile komplett erfolgreich bewältigt und befindet sich in der Ausbildung.

Eine junge Sportlerin der Gruppe, die seit einigen Jahren immer mehr den Rollstuhl nutzen muss, hat ihn inzwischen als Hilfsmittel anerkannt und sieht ihn mittlerweile auch als Sportgerät an. Sehr talentiert nimmt sie an den Trainings teil und schafft es mit ihrer Authentizität, ein Vorbild für andere Rollifahrer zu sein. Sie studiert und ist in verschiedenen Vereinen sehr aktiv. Ihre aktuelle sportliche Herausforderung ist der Rollstuhltanz. Im Sommer wird sie heiraten – im Rollstuhl und das ohne irgendein Problem.
Das sind einige Beispiele, die problemlos ergänzt werden können. Unsere Trainings sind also immer auch Lebenshilfe. Wir sprechen miteinander, tauschen uns aus und geben uns Tipps, wenn die neueste Erschwernis mal wieder überhandnimmt – eine Art kollegiale Fallberatung.

Gelebte Inklusion

Das Rollstuhltraining des TV Mainz-Laubenheim ist so angelegt, dass auch normale „Fußgängerinnen und Fußgänger“ teilnehmen können. In den Trainings beteiligen
sich oft auch Familienangehörige, Assistentinnen und Assistenten oder Freunde. Sie benutzen dann ebenfalls einen Rollstuhl und sind überrascht, dass der Rollstuhl eben auch ein Sportgerät sein kann – und am Spielfeldrand sitzt der Assistenzhund und schaut zu. Dieses aktive Mitmachen ist gelebte Normalität und steigert die Akzeptanz des Rollstuhlsports.
Unsere Gruppe gibt es seit etwa 15 Jahren. Viele Sportlerinnen und Sportler im Rollstuhl sind von Anfang an dabei, es gibt aber auch immer wieder Wechsel in den Trainingsgruppen. Die Gruppe wächst, weil ständig neue Leute dazukommen und sich über den Sport wieder alleine in den Alltag wagen. Wir haben in den Jahren unzählige Menschen stark gemacht und ihnen gezeigt, wie wichtig und wertvoll sie für die Allgemeinheit sind. Rollstuhlsport ist Lebenshilfe pur und darf dienstags gerne einmal als Beeinträchtigte/r aber auch als Fußgängerin oder Fußgänger besucht werden.