Raus aus der Nische – aber wie?

Für eine bessere Wirkung in der Praxis braucht es die gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten

Das BTHG bietet zahlreiche positive Impulse für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Doch zugleich ist unbestritten, dass es immer noch eine substanzielle Lücke gibt zwischen den gesetzlich verankerten Zielen und Aufträgen und dem, was in der Praxis tatsächlich ankommt. Die BAR beleuchtet das Thema im Interview mit Julia Hauffen, Matthias Rösch, und Prof. Dr. Torsten Schaumberg.

Sind die Regelungen des SGB IX zu komplex für die Umsetzung in der Praxis mit dem Ziel der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen?

Rösch: Mit dem Bundesteilhabegesetz sind einige Verbesserungen für die leistungsberechtigten Menschen mit Behinderungen in das Gesetz genommen worden. Die klarer geregelten Fristen und das Monitoring durch den Teilhabeverfahrensbericht, die Teilhabeberatung oder die Neuregelung der selbstbeschafften Leistungen mit einer Fiktionsfrist nach § 18 SGB IX haben die Rechtsstellung der leistungsberechtigten Menschen mit Behinderungen gestärkt. Allerdings wird von diesen Rechten wenig Gebrauch gemacht, die leistungsberechtigte Person muss sich schon gut auskennen und/oder die entsprechende Un-terstützung finden. Außerdem wird das Ziel von Leistungsgewährung aus einer Hand, eines der großen Versprechen des Bundesteilhabegesetzes, kaum umgesetzt. Das zeigt die geringe Zahl von Teilhabeplanverfahren.
Schaumberg: Diese Frage berührt nur einen Teil des Problems. Aus meiner Sicht ergibt sich die Komplexität des Systems „Teilhaberecht“ nicht aus den Regelungen des SGB IX allein, sondern aus dem Zusammenwirken des SGB IX mit den jeweiligen Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger, die den Beteiligten für eine erfolgreiche Umsetzung auch bekannt sein müssen. Letztlich ist es nur der Rehabilitationsträger „Eingliederungshilfe“, der in seinem Bereich allein mit dem SGB IX arbeiten kann. Betrachtet man dieses „gegliederte System“ dann ist es in der Tat als durchaus komplex zu bezeichnen. Allerdings sind komplexe Regelungssysteme im deutschen Recht nichts Unbekanntes. Allein der Blick auf das Abgaben- und Steuerrecht zeigt, dass eine Verwaltung auch komplexes Recht erfolgreich in der Praxis umsetzen kann. Mit entsprechend ausgebildetem Fachpersonal dürfte daher auch das Teilhaberecht erfolgreich in der Praxis umsetzbar sein.
Hauffen: Jeder Reha-Träger hat die Aufgabe, über seinen eigenen Zuständigkeitsbereich hinaus informiert zu sein und sich dabei im SGB IX und zusätzlich in seinen „Hausgesetzen“ zu bewegen, um Zuständigkeiten zu klären, Leistungsverantwortungen abzugrenzen und übergreifende Bedarfe zu erheben. Neben der Auseinandersetzung mit den umfassenden Regelungen im Teilhabeplanverfahren darf der Mensch mit Behinderung während der Beratung nicht aus dem Fokus geraten. So müssen einerseits individuelle Lösungen gefunden werden, anderseits stehen gesetzliche Vorgaben und deren unterschiedliche Auslegung der angestrebten Lösung entgegen. Die gesetzlichen „Maßgaben“ decken sich hier nicht immer mit den tatsächlichen Bedarfen und Rahmenbedingungen und erschweren so den Prozess

Werden die gesetzlichen Regelungen in der Praxis einfach nicht richtig umgesetzt und woran könnte das liegen?

Schaumberg: Dass gesetzliche Regelungen in der Praxis nicht richtig umgesetzt werden, ist eine These, die zunächst überprüft werden müsste. Ein Indiz für die Richtigkeit der These könnte sein, dass es eine nennenswerte Anzahl sozialgerichtlicher Entscheidungen gibt, die behördliches Handeln zugunsten von Menschen mit Behinderungen abändern. Hierbei könnte eine Rolle spielen, dass die Ausbildung der Mitarbeitenden der Rehabilitationsträger nicht alle die Elemente des Teilhaberechts umfasst, die ein rechtskonformes Verwaltungshandeln voraussetzen oder auch fehlende Sanktionen, beispielsweise für Fristüberschreitungen.
Rösch: Das Problem ist die komplexe Struktur unseres zergliederten Rehasystems. Wir treiben mit einheitlichen Ansprechstellen, Verfahrenslotsen, ergänzender Teilhabeberatung etc. einen großen Aufwand. Damit werden Symptome behandelt, aber nicht die Ursache. Wichtig wäre, bei der Struktur der Leistungsträger anzusetzen. Nach meiner Auffas
sung sollte es für jede Leistungsgruppe (Rehabilitation, Arbeit, Bildung und soziale Teilhabe) für die leistungsberechtigten Menschen eine Teilhabestelle geben, die umfassend alle Leistungen klärt und entscheidet. Gleichzeitig sollten bei den Leistungsträgern die Zuständigkeiten zusammengefasst sowie Anspruchsvoraussetzungen verbessert und vereinheitlicht werden. Beispielsweise könnten Rentenversicherung, Arbeitsagentur und Integrationsämter zu einem Leistungsträger für den Bereich Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zusammengefasst werden und hier die Teilhabeleistungen der Werkstatt für behinderte Menschen und für ein Studium dazu genommen werden. Außerdem sollten die Anspruchsvoraussetzungen angeglichen werden, zum Beispiel die Einkommens- und Vermögensregelung der Eingliederungshilfe an die der Gesetzlichen Krankenversicherung ausgerichtet sowie die Pflegesachleistungen endlich budgetfähig gemacht werden. Der Grundsatz „Hilfen aus einer Hand“ muss endlich umgesetzt und Verschiebebahnhöfe bei den Leistungsträgern müssen abgebaut werden.
Hauffen: Da die Komplexität des SGB IX immer Bestandteil des Reha-Geschäfts bleiben wird, ist ein gemeinsames Bewusstsein und Verständnis für die Rechte und damit eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten notwendig. Trotz vieler gemeinsamer Empfehlungen, überregionaler Absprachen und Kooperationsvereinbarungen kommt es immer wieder zu Konflikten und Missverständnissen zwischen den Reha-Trägern aufgrund unterschiedlicher Auslegungen und Interpretationen der Gesetze, unterschiedlicher interner Vorgaben und Richtlinien innerhalb der Organisationen. An dieser Stelle führt die umfangreiche Gesetzeslage häufig zu einer Verzögerung des Teilhabeprozesses.

Fristet das Teilhaberecht ein Nischendasein und was muss getan werden, damit es besser in der täglichen Praxis wirken kann?

Hauffen: Durch einen verstärkten Informationsaustausch und ein gemeinsam entwickeltes Rechtsverständnis können Hindernisse überwunden und Lösungen gefunden werden, um das Teilhaberecht effektiver umzusetzen. Neben der Sensibilisierung und dem gemeinsamen Verständnis aller Beteiligten müssen ausreichende Ressourcen zur Verfügung gestellt und gemeinsame Aus- und Weiterbildungsprogramme geschaffen werden. Insgesamt bedarf es einer Anstrengung aller Beteiligten, um das Teilhaberecht aus der Nische herauszuholen und in der täglichen Praxis besser wirken zu lassen.
Rösch: Das Teilhaberecht ist für die berechtigten Menschen mit Behinderungen sehr wichtig. Aus dieser Perspektive hat das Teilhaberecht kein Nischendasein, sondern kann existenziell Teilhabe und Selbstbestimmung absichern und fördern. Diese Möglichkeit des Empowerments sollte stärker in den Fokus gerückt werden.
Schaumberg: Das Teilhaberecht fristet sicherlich ein Nischendasein, dies ist aber nicht ungewöhnlich. Es betrifft nur einen Teil der Bevölkerung und steht damit nicht im Fokus der Rechtswissenschaft. Dieses Schicksal teilt es aber mit anderen Rechtsgebieten, wie etwa dem Strafvollzugsrecht, dem Betriebsrentenrecht oder dem Patentrecht – allesamt komplexe Regelungsmaterien, die in der Praxis wirken. Solange fachlich spezialisiertes Personal mitwirkt, kann auch ein wenig bekanntes Rechtsgebiet in der Praxis erfolgreich umgesetzt werden.