Es braucht Zeit und Ausdauer

Paradigmenwechsel vom Fürsorgeprinzip zum Selbstbestimmungsprinzip ist eine Art Kulturwandel

Wie müssen „tragfähige Brücken zwischen Recht und Praxis“ konstruiert sein, damit die Regelungen des SGB IX einen tatsächlichen Nutzen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen bringen und was können die BAR und ihre Mitglieder dazu beitragen? Im folgenden Beitrag lässt die BAR Reha-Träger zu Wort kommen.

Kay Schumacher, Hauptgeschäftsführer Verwaltungsberufsgenossenschaft (VBG):

Abbau bürokratischer Hürden und enge Vernetzung
„Reha einfach machen. Leistungen wie aus einer Hand“ – mit dem BTHG sollten die Möglichkeiten der Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen gestärkt werden, insbesondere durch einen vereinfachten Zugang zu Reha-Leistungen. Doch haben wir den erhofften Fortschritt erreicht? Seit 2018 genügt ein einziger Reha-Antrag, um ein umfassendes Prüf- und Entscheidungsverfahren in Gang zu setzen. Die Koordination der Teilhabeleistungen erfolgt dabei durch die Träger untereinander. Besonders entscheidend für das erfolgreiche Erreichen der Rehabilitationsziele ist dabei die Zusammenarbeit der Träger. Unsere Erfahrungen zeigen aber, dass es vielfach noch an einer effektiven Vernetzung fehlt. Zudem ist durch die verbindliche Regelung des Teilhabeplanverfahrens der bürokratische Aufwand für die Träger gestiegen. Die Intention des Gesetzgebers war gut, führt aber in der Praxis zu Hemmnissen bei der Umsetzung und zu Verzögerungen. Ein Abbau bürokratischer Hürden und die Förderung einer engen Vernetzung der Reha-Träger können dazu beitragen, dass die Rehabilitationsziele für Menschen mit Behinderungen schneller erreicht werden und somit eine wirksame Brücke zwischen Recht und Praxis schaffen.

Dr. Nicole Cujai, Geschäftsführerin Geschäftsbereich Arbeitsmarkt Bundesagentur für Arbeit (BA):

Gegenseitige Bereicherung in Netzwerken
Tragfähige Brücken erfordern ein solides Fundament, eine fachkundig berechnete Statik und eine solide Bauweise, damit Menschen gut von ihrem Ausgangspunkt zum anvisierten Ziel kommen können. Unsere fachlichen Expertinnen und Experten aller Reha-Träger sind sehr kompetente Bauherrinnen und Bauherren, um die Brücke vom Gesetz in die konkrete Unterstützung begehbar zu machen. Für den laufenden Betrieb unseres gemeinsamen Systems braucht es aber auch eine fortwährende Instandhaltung oder bisweilen gar Alternativen zur Brücke. Wir müssen daher mit einem kritischen Blick regelmäßig unsere Empfehlungen überprüfen und Feedback von Mitarbeitenden oder Kundinnen und Kunden einholen. Die BAR verfügt über ein umfangreiches Instrumentarium, um Begegnungen und Austausch zu ermöglichen, Expertise einzuholen und Standards weiterzuentwickeln. Die Bundesagentur für Arbeit als Organisation, unsere Beraterinnen und Berater sowie unsere Rehabilitanden profitieren davon und bereichern das Netzwerk gleichzeitig wieder um neue Erkenntnisse.

Oliver Blatt, Leiter der Abteilung Gesundheit beim Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek):

Äußerst leistungsfähig und einzigartig
Das ausdifferenzierte System der Rehabilitation in Deutschland mit seinen unterschiedlichen Reha-Trägern ist äußerst leistungsfähig und wahrscheinlich weltweit einzigartig. Jeder der Träger hat dabei seine spezifischen Aufgaben und Zuständigkeiten und ist ein wichtiger Teil in der großen Bandbreite an Leistungen. Die Herausforderung besteht darin, den Zugang zu den unterschiedlichen Leistungen möglichst einfach und verständlich zu gestalten. Nur dann können die Betroffenen auch tatsächlich davon profitieren. Hier bietet die BAR den richtigen Rahmen für trägerübergreifende Absprachen, um am Ende den Zugang und die Inanspruchnahme der Teilhabeleistungen „wie aus einer Hand“ zu ermöglichen.
In der gesetzlichen Krankenversicherung liegt der Fokus auf dem immer wichtiger werdenden Thema der Vermeidung von Pflegebedürftigkeit. Ein Großteil der Rehamaßnahmen wird unmittelbar nach einem Krankenhausaufenthalt erbracht. Das dabei etablierte Anschlussrehaverfahren, das ab nächstem Jahr auch digital zur Verfügung steht, sorgt dafür, dass die Leistung schnell und niedrigschwellig in rund 1.800 qualitätsgesicherten Rehabilitationseinrichtungen zur Verfügung steht. Sofern in Einzelfällen trägerübergreifende Maßnahmen notwendig sind, so ist auch hier die BAR die geeignete Plattform.

Brigitte Gross, Direktorin Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund:

Schlanke Strukturen und praxisnahe Vorgaben
Ein selbstbestimmtes Leben führen und gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen – das sind die Prinzipien des SGB IX. Gleichzeitig wurde mit dem Paradigmenwechsel vom Fürsorgeprinzip zum Selbstbestimmungsprinzip ein Kulturwandel eingeleitet, für den es Zeit und Ausdauer braucht. Denn sowohl die Sozialversicherungsträger als auch die Leistungserbringer mussten zunächst Strukturen und Prozesse neugestalten, um Veränderungen auch umsetzen zu können.
Gesetzliche Regelungen können die Situation der Menschen nur dann verbessern, wenn sie gut umsetzbar sind. Die BAR kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Als Koordinatorin und Netzwerkerin ist sie gefragt, die Sozialversicherungs-Träger dabei zu unterstützen, Strukturen zu vereinfachen, Komplexität zu reduzieren und praxisnahe Vorgaben mitzugestalten. Mit diesem Fokus sollten die Gemeinsamen Empfehlungen ausgestaltet, Gesetzgebungsverfahren begleitet und die Zusammenarbeit der Leistungsträger weiterentwickelt werden. Damit Menschen mit Behinderungen die Leistungen erhalten, die sie für eine gelungene Teilhabe brauchen – nahtlos, zügig und einheitlich.

 

Dr. Andreas Jürgens, Erster Beigeordneter Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen:

Recht und Praxis sind keine Gegensätze
Die Rechtsetzung, Rechtsanwendung, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung müssen in ständigem Austausch stehen und sich wechselseitig beeinflussen.
Der LWV Hessen hat schon seit 2007 sein Konzept einer „Personenzentrierten Steuerung der Eingliederungshilfe“ (PerSEH) entwickelt, erprobt und schrittweise umgesetzt. Viele dort entwickelte Aspekte waren zehn Jahre später Leitbilder für das BTHG. Der in Hessen entwickelte Integrierte Teilhabeplan (ITP) war eines der Vorbilder für ICF-orientierte Instrumente der Bedarfsermittlung. Zugleich setzte das BTHG neue Akzente, beispielsweise mit der Trennung der Fachleistungen von den existenzsichernden Leistungen. Deren Umsetzung ist Verpflichtung der Verwaltung wie auch der anderen Akteure der Eingliederungshilfe. Allerdings weist die föderale Ordnung den Ländern und den ausführenden Behörden die Entscheidung darüber zu, auf welche Weise gesetzliche Regeln umgesetzt werden. Unterschiede sind daher keine Missachtung des Rechts, sondern Wahrnehmung von Verantwortung.
Für das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen sind die gemeinsamen Empfehlungen der BAR daher ebenso unverzichtbar wie ihre Arbeitshilfen, Handlungsempfehlungen und sonstigen Veröffentlichungen.