Antragstellung nach § 14 SGB IX im Recht der öffentlichen Jugendhilfe

Orientierungssätze*
  • Anträge auf Sozialleistungen bedürfen keiner besonderen Form; dies gilt auch im Rahmen der Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX.
  • § 14 SGB IX ist auch dann anwendbar, wenn es möglich ist, dass eine Leistung zur Teilhabe nach § 5 SGB IX beantragt worden ist.
OVG Lüneburg, Beschluss v. 25.11.2019, Az.: 10 PA 204/19

* Leitsätze oder Entscheidungsgründe des Gerichts bzw. Orientierungssätze nach JURIS, redaktionell abgewandelt und gekürzt

Sachverhalt und Entscheidungsgründe

Die 2004 geborene, an Mukoviszidose erkrankte, Klägerin zu 1. erhält vom beklagten Jugendhilfeträger seit Dezember 2012 Hilfe zur Erziehung (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII) in Form der Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII). Die Diakonie teilte dem Beklagten am 30. Juni 2017 mit, dass die Pflegeeltern (Kläger zu 2. und 3.) einen „Antrag auf Finanzierung der Haussanierung“ stellten, weil sich die Klägerin zu 1. in dem gemeinsamen Haus in einem gesundheitsschädlichen Umfeld befände. Am 19. Januar 2018 lehnte der Beklagte die Hilfe ab. Die hiergegen gerichtete Klage der Klägerin zu 1. wurde vom Verwaltungsgericht als unzulässig angesehen, weil sie beim Jugendhilfeträger keinen Antrag gestellt habe. In der Folge lehnte das Verwaltungsgericht auch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht ab.

Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte vor dem OVG Erfolg. Das Gericht führt hierzu insbesondere an: Ein Antrag auf Sozialleistungen (§ 37 i. V. m. § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB I) bedarf keiner besonderen Form; auch die Mitteilung von Tatsachen sowie mündliche Erklärungen von Dritten im Auftrag eines Berechtigten können als Antragstellung zu verstehen sein. Weiter ist ein Leistungsantrag nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung auszulegen. Schließlich kann nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Pflegeeltern (s. § 1688 BGB) den Antrag nur im eigenen Namen gestellt haben, zumal die 12-jährige Klägerin zu 1. den Antrag nicht selbst stellen konnte (vgl. § 36 SGB I).

Bezogen auf den Anspruch der Klägerin zu 1. stellt das OVG fest, dass § 35a SGB VIII aufgrund einer fehlenden seelischen Beeinträchtigung nicht als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt. Die Beklagte könnte jedoch als erstangegangener und mangels Weiterleitung binnen 2 Wochen leistender Reha-Träger wegen § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zu der begehrten Leistung verpflichtet sein. Soweit der Beklagte Leistungen in Form von Hilfe zur Erziehung (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII) erbringt, ist er kein Reha-Träger i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX. Deshalb gilt § 14 SGB IX insofern zwar nicht. Der Jugendhilfeträger kann aber Reha-Träger sein, wenn Leistungen zur Teilhabe gem. § 5 Nr. 1, 2, 4 oder 5 SGB IX beantragt werden (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX); vorliegend könnten Leistungen zur Teilhabe nach § 5 Nr. 5, § 76 Abs. 1, 2 Nr. 1, § 77 Abs. 1 SGB IX beantragt worden sein. Im Einzelnen lässt das OVG hierbei offen, ob ein Anspruch  besteht, weist aber darauf hin, dass der Antrag im umfassenden Sinne zu verstehen ist. Die Prüfung durch den (leistenden) Reha-Träger hat an Hand aller Rechtsgrundlagen für  Teilhabeleistungen, unter Beachtung der persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach den jeweiligen Leistungsgesetzen, zu erfolgen.
Insgesamt werden in der  Entscheidung die in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien angewendet für das Vorliegen und die Auslegung eines Antrags i. S. d. § 14 SGB IX, wie sie Eingang in die Gemeinsame  Empfehlung Reha-Prozess (dort insb. § 5 Abs. 3, § 19 Abs. 2) gefunden haben, konsequent auf den Bereich der Jugendhilfe an. Da die Entscheidung in einem Nebenverfahren (Prozesskostenhilfe) ergangen ist, bleibt hinsichtlich des konkreten Anspruchs der Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.