Partizipation gegen Stigmatisierung

Sensibilität und Toleranz – notwendig für Prävention und Demokratie

Partizipation bedeutet Teilhabe an Entscheidungsprozessen, die das eigene Leben oder das der Gemeinschaft betreffen – leider keine Selbstverständlichkeit in Psychiatrie und Gesellschaft. Im historischen Kontext betrachtet war es für Deutschland ein kleines Wunder, dass der Trialog 1989 mit der Keimzelle des Psychoseseminars Hamburg ausgerechnet mit diesem Schwerpunkt begann: 50 Jahre vorher galten die meisten Menschen mit der Diagnose Schizophrenie als lebensunwert und wurden umgebracht. Und die politisch sehr wirksame UN-Behindertenrechts-Konvention trat erst 2008, also knapp 20 Jahre später, in Kraft.

Partizipation – Selbstverständlichkeit und politische Herausforderung

Das Psychoseseminar war anfangs eine Art Gegenthese zum patriarchalen Denken, auch zur klassischen, damals noch
stark normativen Psychoedukation (1). Während diese zunächst auf Compliance zielte, ging und geht es im trialogischen Kontext um Empowerment: um einen Blick auf die Vielfalt von Psychosen, um Perspektivwechsel, um eine Wertschätzung für subjektive Erklärungsmodelle, für individuelle und familiäre Ressourcen, um Beziehungskultur, Mitverantwortung und Selbstwirksamkeit. Inzwischen geschehen Trialog und Partizipation auf vielen Ebenen: Fortbildung, Bücher, Verbände, Beschwerdestellen, Antistigma-Projekte, im psychiatrischen Alltag (z. B. open-Dialog, Behandlungsvereinbarungen) sowie ansatzweise auch in Forschung (2).

Stigmatisierung: Historische und aktuelle Verantwortung der Psychiatrie

Stigmatisierung ist für Soziologen die „Zuordnung negativ bewerteter Merkmale“. Sie hat sicher auch gesellschaftliche Gründe und wird durch soziale Ungleichheit getriggert. Doch zunächst mal geschieht sie in der Psychiatrie: Im Moment der Diagnose wird ein Merkmal zugeordnet, von dem jeder wissen kann, dass es negativ bewertet ist. Insofern trägt die Psychiatrie eine historische und eine aktuelle Verantwortung für Diskriminierung und musste eigentlich viel mehr Kraft und sprachliche Fantasie darauf verwenden, sich selbst zu übersetzen (3). Statt „Sie haben eine Schizophrenie und müssen jetzt ein Leben lang Medikamente nehmen“ könnte ich auch sagen: „Sie sind aktuell sehr dünnhäutig. Ihre Grenzen sind durchlässig: innere Dialoge werden zu Stimmen, äußere Ereignisse können filterlos eindringen. Wie können Sie sich schützen? Wie kann ich dabei helfen?“. Ein offeneres anthropologisches Krankheitsverständnis anstelle einer pathologischen Betrachtung ist Konsequenz und Voraussetzung von Partizipation bzw. Trialog (4).

Haben wir die Psychiatrie entstigmatisiert, aber nicht alle psychisch Erkrankten?

Es gab und gibt viele Bemühungen, der Stigmatisierung entgegenzuwirken sowie für mehr Sensibilität und Toleranz zu werben – im Umgang mit sich und anderen. Entscheidend für den Erfolg sind der Trialog und die Anamnese eines fließenden Übergangs zwischen gesund und krank. Niemand ist nur gesund oder nur krank. Die Erfahrung zeigt: Biologischer Reduktionismus verstärkt das Stigma-Risiko. (Schomerus, Angermeyer) Begegnung, Partizipation und Wahrnehmung der Gemeinsamkeiten können es reduzieren.

Doch das geschieht sehr unterschiedlich. Bei Diagnosen wie Depression und Burnout hat das Stigma-Risiko in den letzten Jahren deutlich abgenommen, bei anderen wie Psychosen, Manie oder Suchterkrankungen eher noch zugenommen. Bei einer dritten Gruppe wie beispielsweise ADHS und Autismus tragen Social-Media-Aktivitäten dazu bei, dass es in manchen gesellschaftlichen Gruppen eine Überidentifikation gibt (5); das heißt die Schwelle, sich selbst so zu bezeichnen, ist deutlich reduziert – zu Zeiten eines Fachkräftemangels ein Problem. So könnte es sein, dass die Tür in die Psychiatrie zu weit offen ist und dadurch die „Eigensinnigen“, die nicht von selbst Hilfe suchen, außen vor bleiben. Der Psychiatrie wird zu viel Verantwortung zugeschrieben, auch für Probleme, die eigentlich auf soziale oder gesellschaftliche Missstände verweisen (z.B. Burnout,  Einsamkeit, „Umwelt-Angst“).

Psychisch stabil in einer zunehmend instabilen Welt?

Wie kann es gelingen, psychisch stabil zu bleiben in einer zunehmend verrückten Welt? Die aktuelle COPSY-Studie (6) stellte fest, dass junge Menschen ihre psychische Belastung zu einem hohen Anteil „den Krisen der Welt“ zuschreiben. Das ist erschreckend und beruhigend zugleich: Die Bedrohung von außen ist nicht zu leugnen; sie nicht zu internalisieren ein Fortschritt. Doch das setzt voraus, dass sie das auch in Therapien oder in der Rehabilitation so realisieren: Es gibt eine psychische Belastung, die nicht krankheitsbedingt ist und die uns alle betrifft. Sie erfordert Solidarität und politisches Handeln, auch Ehrlichkeit im Hinblick auf unsere eigene Angst – jedenfalls nicht Psychiatrisierung.

Sensibilität und Toleranz – Voraussetzung für Prävention und Demokratie

Peer-Begleitung fördert Selbstwirksamkeit und Selbstverantwortung: Nimmt man sie in Anspruch, schreibt man sich den Erfolg zu, bei anderen Therapeutinnen und Therapeuten (7) – ein wichtiger Grund, sie überall einzusetzen, gerade auch in der Rehabilitation. Sie kann Hilfe zur Partizipation, Brücke zwischen Selbst- und Fremdhilfe sein. Sie gibt uns allen Anstoß, uns weniger zu verstellen und im Hinblick auf eigene Krisen oder die Bedrohung von außen weniger künstlich enthaltsam zu sein.

Irre menschlich Hamburg e.V. entstand vor 25 Jahren als eines der ersten konsequent trialogischen Antistigma-Projekte (2) – mit Begegnungsprojekten in Schulen, trialogischen Fortbildungen für viele Zielgruppen, speziellen Zu-sich-stehen- Kursen für Erfahrene sowie öffentlichen Online-Angeboten (z. B. „Bock auf Dialog?“). Wie schaffen wir vergleichbare Bürgerinitiativen für Sensibilität und Toleranz überall – mancherorts auch gegen den Strom? Partizipation ist auch eine gesellschaftliche Notwendigkeit, ein wichtiges Anliegen, um der Spaltung und Entsolidarisierung entgegenzuwirken. Ausgrenzungstendenzen nehmen wieder zu – gegen „Fremde“, aber auch gegen Menschen, die in psychischen Krisen fremd wirken oder sich selbst fremd werden. Soziale Gerechtigkeit ist nötig, damit niemand zum Sündenbock wird.

Prof. Dr. Thomas Bock, (ehemaliger) Leiter der sozialpsychiatrischen Ambulanz und Professor für klinische und Sozial-Psychiatrie am UKE in Hamburg. Arbeitsschwerpunkte Psychiatrie, bipolare Störungen, Psychosen und Psychoedukation.

Literatur

(1) Heumann, K.; Bock, T. (2016): Psychoedukation: eine hilfreiche Basisintervention für alle? Wohl kaum! In: Sozialpsychiatrische Informationen, 2/2016, 46 Jg., S. 20–22.

(2) Bock, T.; Schulz, G.; Fischer, R. (2020): Vom ersten Psychoseseminar bis zur Bürgerinitiative – Erfahrungen und Wirkungen der trialogischen Zusammenarbeit. In: Handbuch Gemeindepsychologie. Tübingen: DGVT Verlag.

(3) Weinmann, S.; Schulz, M. (Hg.) (2025): Sprache in der Psychiatrie. Köln: Psychiatrieverlag.

(4) Bock, T. (2014): Wird die Menschheit kränker oder die Krankheit menschlicher? Editorial. In: Psychiat. Praxis 2014; 41, S. 121–123.

(5) „Bock auf Dialog?“ – Online Gespräche mit persönlichen und beruflichen Expert:innen. Online verfügbar: https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/71618 (12.11.2025)

(6) Kamann, A.; Zöllner, F.; Devine, J.; Ravens-Siberer, U. (2025): Psychische Gesundheit und Bedarfe Jugendlicher – Ergebnisse der COPSY-Studie. In: Public Health Forum 33 (2), S. 131–134.

(7) Mahlke, C.; Priebe, S.; Heumann, K.; Daubmann, A.; Wegscheider, K.; Bock, T. (2017): Effectiveness of one-to-one peer support for patients with severe mental illness – a randomised controlled trial. In: European Psychiatry, 42, S. 103–110.