Die Macht der Sprache

Sprachliche Veränderungen in der Psychiatrie

Wenige Worte können über ein Leben entscheiden. In meinem Fall lauteten sie „rezidivierende Depressionen“ und „generalisierte Angststörung“. So heißen meine psychiatrischen Diagnosen, mit deren Auswirkungen ich seit vielen Jahren klarkommen muss. In den Phasen, in denen mir das nicht so gut gelungen ist, war ich mehrfach über viele Wochen Patient in verschiedenen Krankenhäusern. In den Zeiten, in denen ich besser klarkomme, arbeite ich mittlerweile als „Erfahrungsexperte“ für seelische Krisen am Universitätsklinikum Heidelberg.

Nichts daran ist selbstverständlich – weder die Form meiner Behandlung noch mein Beruf. Das erkenne ich immer dann, wenn ich mir die Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit seelischen Erkrankungen näher betrachte. Sie zeigt, dass ich früher vielleicht ohne geeignete Therapie im riesigen Bettensaal einer Verwahranstalt gelandet wäre. In der NSZeit, als mein Großvater Mediziner war, hätte ein ärztlicher Gutachter unter Umständen sogar die Macht gehabt mich für „lebensunwert“ zu befinden. Dieses schreckliche Wort diente dazu, die staatliche Mordaktion an psychisch Kranken zu rechtfertigen. Allerdings wäre ich persönlich für eine solche pseudo-wissenschaftliche Einstufung wohl doch noch ein bisschen zu fit gewesen, nach allem, was ich so weiß. Meist kann ich ja arbeiten. Und nun tue ich das sogar Woche für Woche in der Psychiatrie!

Dabei spüre ich stets die Macht der (Fach-)Sprache, die zum Glück viel humaner geworden ist: Einst wurden Menschen wie ich ja als „Geisteskranke“ oder „Irre“ bezeichnet. Zwar werden wir im Alltag sicherlich noch häufig abgewertet. Aber heute firmieren wir in der Regel doch eher als „Patientinnen und Patienten“, „Klientinnen und Klienten“ oder „Kundinnen und Kunden“. Meine Kolleginnen und Kollegen respektieren mich als „Genesungsbegleiter“, das heißt als Erfahrungsexperten für seelische Krisen. Diese sprachlichen Veränderungen stehen zeichenhaft für eine neue Haltung der Fachpersonen: Sie erkennen zunehmend den Wert der persönlichen Erfahrungen psychisch kranker Menschen, ihrer Freundinnen und Freunde sowie Familien an. Auch die Wissenschaft hat entdeckt, dass wir uns mit dieser ganz besonderen Expertise genesungsförderlich in den Behandlungs- und Begleitungsprozess einbringen können.

Jetzt denken Sie vielleicht, dass das alle nur Wortgeklingel ist!? Sprachspiele, die mit der medizinischen Realität nichts zu haben. „Wokes“ Gerede, das niemandem hilft. Falsch! Bis vor kurzem galt „Compliance“ als wichtigster Beitrag einer Patientin zu ihrer Behandlung. Gemeint war damit, dass sie die Ideen des Fachpersonals nicht hinterfragen, sondern möglichst abnicken sollte. Heute sind wir da weiter. Wir leben in einer Demokratie – und diese Tatsache macht auch vor unseren Behandlungszimmern nicht Halt. Natürlich dürfen wir Patientinnen und Patienten unsere Diagnosen nicht nach Belieben wählen. Aber wie wir mit diesen Diagnosen umgehen, das entscheiden wir idealerweise in einem Prozess der geteilten Entscheidungsfindung. Zum Beispiel treffe ich als Genesungsbegleiter immer wieder Menschen, die ihre seelischen Krisen ohne Medikamente bewältigen möchten. Das habe ich dann zu respektieren, obwohl ich persönlich die Erfahrung gemacht habe, dass mir die Pillen geholfen haben, meinen Weg in die so genannte „Normalität“ schneller zu finden. Schließlich möchte auch ich gerne medikamentenfrei leben, wenn es irgendwie geht.

Der Weg von der therapielosen Verwahrung seelisch erkrankter Menschen bis hin zu unserer Anerkennung als Expertinnen und Experten in eigener Sache war unfassbar weit. Unterwegs ist viel Schlimmes passiert. Um so glücklicher bin ich, heute in einer Gesellschaft zu leben, die mir die Chance gibt, in Wort und Tat dabei mitzuhelfen, dass die Generation meiner Kinder, Nichten und Neffen einen menschlicheren Umgang mit ihren psychischen Krisen und Krankheiten findet. Dafür lohnt es sich, morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen.