Behinderungsbegriff, UN-BRK – Langfristigkeit einer Einschränkung

Orientierungssätze *
■ Die Feststellung, ob eine Einschränkung „langfristig“ iSd unionsrechtlichen Behinderungsbegriffs
(Art. 1 u. 2 der Richtlinie 2000/78/EG) ist, ist vor allem tatsächlicher Natur und
deshalb von den nationalen Gerichten zu treffen. Dabei haben sie sich auf alle bekannten
objektiven Gesichtspunkte zu stützen, insbesondere auf Unterlagen und Bescheinigungen,
die auf aktuellen medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und Daten beruhen.
■ Dass eine nach nationalem Recht vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, hier aufgrund Arbeitsunfalls,
von unbestimmter Dauer ist, bedeutet für sich genommen nicht zwangsläufig,
dass die Einschränkung auch „langfristig“ ist.
■ Anhaltspunkt dafür, dass eine Einschränkung „langfristig“ ist, kann sein, dass ein kurzfristiges
Ende der Arbeitsunfähigkeit nicht genau absehbar ist oder dass sich die Arbeitsunfähigkeit
bis zur Genesung des Betroffenen noch erheblich hinziehen kann.

EuGH, Urteil vom 01.12.2016, Rs. C-395/15
*Leitsätze und Orientierungssätze nach JURIS, jeweils ggf. redaktionell abgewandelt

Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Ein Arbeitnehmer in Spanien hatte aufgrund eines Arbeitsunfalls eine Ellenbogenluxation erlitten, die zur Arbeitsunfähigkeit führte. Deren voraussichtliche Dauer ließ sich indes zunächst auch auf zwischenzeitlich erfolgte Nachfrage des Arbeitgebers nicht bestimmen. Zum Ende des darauffolgenden Monats kündigte der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer. Die Kündigung erfolgte formal wegen Fehlverhaltens, nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts jedoch wegen der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit von unbestimmter Dauer. Dies kann nach spanischem Recht zulässig sein. Das vorlegende Gericht sah allerdings die Möglichkeit, dass dadurch die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78 verletzt sein könnte und legte dem EuGH verschiedene Fragen vor. Unter anderem: Liegt eine unmittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung vor, wenn ein Arbeitnehmer allein aufgrund seiner vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit – die von unbestimmter Dauer ist – entlassen wird? Der Arbeitnehmer war unstreitig auch 6 Monate nach dem Arbeitsunfall noch arbeitsunfähig. In seinem Urteil bestätigt der EuGH zunächst erneut seine bisherige Rechtsprechung zur Konkretisierung des unionsrechtlichen Behinderungsbegriffs (z.B. Rs. C-335/11 u. C-337/11, vgl. dazu Reha-Info 5/2013). Danach ist die Richtlinie 2000/78/EG im Lichte der UN-BRK  auszulegen und ist der Begriff der Behinderung so zu verstehen, dass er eine Einschränkung erfasst, die u. a. auf langfristige physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die den Betreffenden in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können. Die vor diesem Hintergrund entscheidende Feststellung, ob eine Einschränkung im Sinne des unionsrechtlichen Behinderungsbegriffs „langfristig“ ist, legt der Gerichtshof mit o. g. Kernsätzen in die Hände der nationalen Gerichte. Die Hinweise des Gerichtshofs zu den bei der Feststellung zu beachtenden Grundlagen und Anhaltspunkten sind dabei weitere Näherungen an eine Konkretisierung des Begriffs „langfristig“, die in dieser Form erhebliche Spielräume lassen. Für das deutsche Recht ist die Entscheidung insbesondere vor dem Hintergrund des durch das BTHG mit Wirkung ab 1.1.2018 neu gefassten Behinderungsbegriffs in § 2 SGB IX in mehrerlei Hinsicht bedeutsam. So ist beispielsweise augenfällig, wie nah der neue Behinderungsbegriff des § 2 SGB IX an das o. g. unionsrechtliche Verständnis von Behinderung angelehnt ist. Auch spricht nach den Gesamtumständen des Rechtsstreits einiges dafür, dass die bereits bisher und auch in der neuen Fassung des § 2 SGB IX verankerte zeitliche Dimension des Behinderungsbegriffs im deutschen Recht („mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate“) jedenfalls nach unionsrechtlichen Maßstäben wohl eher unproblematisch ist.