Orientierungssätze *

  1. Für den Begriff der „Behinderung“ i.S.d. § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. c EStDV ist auf § 2 Abs. 1 SGB IX abzustellen.
  2. Ob im Einzelfall eine Behinderung im Sinne dieser Bestimmungen vorliegt, hat das Finanzgericht aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen.

BFH, Urteil vom 18.06.2015, Az.: VI R 31/14
*Leitsätze des Gerichts und Orientierungssätze nach JURIS, jeweils redaktionell abgewandelt

Sachverhalt und Entscheidungsgründe

Die minderjährige Tochter der Kläger war von 2006 bis Anfang 2009 in jugendpsychiatrischer Behandlung, ab dann in einer betreuten Mädchenwohngruppe untergebracht. Dafür gewährte der zuständige Landkreis vollstationäre Jugendhilfe nach dem SGB VIII, für 2009 und 2010 setzte er gegenüber den Klägern einen Kostenbeitrag (gem. §§ 91 ff. SGB VIII) fest. Diese beantragten beim Finanzamt, den Kostenbeitrag als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 Abs. 1 EStG anzuerkennen. Der Antrag wurde ebenso wie der Widerspruch abgelehnt. Die Klage auf einkommensmindernde Berücksichtigung der Aufwendungen für den Kostenbeitrag hatte schließlich in der Revision vor dem Bundesfinanzhof (BFH) Erfolg. Zur Überzeugung des Gerichts war für die Anerkennung der erhobenen Kosten auswärtiger Unterbringung in einer Wohngruppe als außergewöhnlichen Belastungen zum maßgebenden Zeitpunkt (hier Anfang 2009) ein vor der Unterbringung erstelltes amts- bzw. vertrauensärztliches Gutachten notwendig (und ausreichend). Steuerlich berücksichtigungsfähige „zwangsläufige“ Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf setzen demnach die Feststellung einer Behinderung i. S. d. EStDV voraus. Dafür ist unter Heranziehung von § 2 Abs. 1 SGB IX zunächst ein Vergleich der körperlichen, geistigen bzw. seelischen Fähigkeiten mit denen eines altersentsprechenden nicht behinderten Kindes erforderlich. Hinzukommen muss die Feststellung, dass als Folge der – hier seelischen – Störung die Teilhabe des Kindes am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Da es hierzu an nachvollziehbaren Feststellungen des Finanzgerichts (FG) fehlte, verwies der BFH an diese Tatsacheninstanz zurück. Das FG wird insbesondere die Frage zu klären haben, ob es als Sekundärfolge des vorliegend diagnostizierten ADHS zu einer weitergehenden seelischen Störung kommt, auf-grund derer die seelische Gesundheit des Kindes länger als 6 Monate von dem für sein Alter typischen Zustand abweicht.
Vorliegende Entscheidung macht deutlich, dass Regelungen des Rechts der Rehabilitation und Teilhabe auch in anderen rechtlichen Kontexten wie z. B. des Steuerrechts Bedeutung erlangen und zur Rechtsfindung heranzuziehen sind. In Bezug auf den Begriff der Behinderung wird dies aufgrund entsprechender gesetzlicher Verweisungen auch dann (weiterhin) gelten, wenn es im Zuge anstehender gesetzlicher Reformen (SGB IX, BGG) zu einer Änderung des Behinderungsbegriffs in Anpassung insbesondere an die UN-Behindertenrechtskonvention kommen wird.