Bedarfsfeststellung: Person - Prozess - Struktur

Ein Bedarf an Leistungen zur Reha und Teilhabe besteht, wenn erwünschte und angemessene Teilhabe behinderungsbedingt nicht ohne Hilfe erreicht werden können. Zur Leistung bedarfsgerechter Hilfen ist eine individuelle personenbezogene Bedarfsfeststellung erforderlich. Wer aber stellt diesen Bedarf fest und wie wird dieser festgestellt? Welche Leistungen sind also in welcher Form und Ausgestaltung für die Teilhabe erforderlich und zielführend?
Was der behinderte Mensch für seine Teilhabe braucht, hängt von seiner Biographie, seiner funktionalen Beeinträchtigung, den Kontextfaktoren und seiner sozialen Unterstützung ab. Und vom gelingenden Zusammenspiel im komplexen Spannungsfeld der Akteure, deren Aufgabe es ist, passgenaue Leistungen für individuelle Bedarfe zu ermitteln. In diesem Spannungsfeld bewegen sich drei Hauptakteure: Die Leistungsberechtigten, die Leistungsträger und die Leistungserbringer. Die Vielschichtigkeit dieses Spannungsfelds lässt sich gut an einem Praxisbeispiel verdeutlichen:

Eine junge Frau mit einer chronisch psychischen Erkrankung ist seit dem Abbruch ihrer Ausbildung arbeitsuchend. Jeder Versuch eigenständig und dauerhaft eine Beschäftigung zu finden scheitert aufgrund ihrer Erkrankung. Gerne würde sie eine Ausbildung zur Fachkraft für Bürokommunikation machen. Nach Beratungsgesprächen schlägt der zuständige Leistungsträger eine unterstützte Ausbildung in einem Berufsbildungswerk vor. Die junge Frau freut sich auf die Möglichkeit doch noch eine Ausbildung zu absolvieren. Nur muss sie für diese Art der Ausbildung umziehen und von ihrem Partner getrennt leben, der ihr in psychischen Krisen Halt gibt. Sie entscheidet sich daher gegen die Ausbildung und schlägt sich mehrere Jahre mit Aushilfsjobs und unterstützenden Leistungen zum Lebensunterhalt durch, bis sie von der Möglichkeit einer medizinisch-beruflichen Rehabilitationsmaßnahme erfährt, die ihr auch bewilligt wird. Nach einem Jahr wird die junge Frau voll erwerbsfähig entlassen und man empfiehlt ihr eine unterstützte Ausbildung, für die auch kein Wechsel des Wohnortes notwendig ist.So kann die Frau ihren Traumberuf unter für sie bestmöglichen Umständen erlernen und ist in den Arbeitsmarkt integriert.

Nur hätte eine individuelle Bedarfsstellung diese Lösung bereits Jahre zuvor ausloten können und damit geholfen, Kosten und Zeit zu sparen.
Dieses Beispiel zeigt die Notwendigkeit einer frühzeitigen, ganzheitlichen und trägerübergreifenden Bedarfsermittlung als kooperativer Vorgang zwischen Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigten, die auf der individuellen Situation und den individuellen Rehabilitations- und Teilhabezielen beruht und geprägt ist von der fachlichen Kompetenz der beteiligten Professionen, Dienste und Einrichtungen. Dann könnten in vielen Fällen Zeit und Kosten eingespart, aber auch mögliche Frustrationen und Missverständnisse vermieden werden.

Schlüsselfunktion
Die Phase der Bedarfsfeststellung folgt der Bedarfserkennung. Bedarfsfeststellung ist ein Schlüsselbegriff für die Konkretisierung von Leistungen. Sie ist gekennzeichnet durch zielgerichtetes Handeln eines Leistungsträgers nach Antrag oder aufgrund von Informationen, denen zufolge ein Leistungsträger tätig werden muss. Auf individueller Ebene sollen Informationen zur Prüfung und Konkretisierung eines potenziell vorliegenden Teilhabebedarfs erhoben werden.
Einzelfallsteuerung beinhaltet die ganzheitliche Erfassung des einzelnen Menschen im Sinne der bio-psycho-sozialen Betrachtung im Rahmen der ICF. Das soll zielgenaue Hilfen ermöglichen und helfen, die finanziellen Ressourcen effizient einzusetzen. Diesen Ansprüchen können die Leistungsträger nur gerecht werden, wenn ihnen für die Einzelfallsteuerung geeignete Instrumente zur Verfügung stehen.

Anforderungen an ein Instrument
Allein zur Bedarfsermittlung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gibt es in Deutschland über 400 unterschiedliche Verfahren und Instrumente. Die Verfahren reichen von kompakten Screenings und Standardtestverfahren bis hin zu komplexen Prozeduren wie Assessments. Von einem einheitlichen Verfahren im Bereich der Bedarfsfeststellung kann nicht die Rede sein. Eine individuelle Teilhabeplanung fordert aber zwingend eine einheitlichere Praxis der Feststellung und Durchführung. Dazu gehört auch die bessere Verzahnung und Sicherung der Nahtlosigkeit im Einzelfall. Aber ebenso ein Instrument zur Koordination mehrerer Leistungen und zur Kooperation der Reha-Träger. Die Betonung der individuellen Bedarfsfeststellung muss im Rahmen der gesetzlichen Regelungen hierzu gesehen werden (Zuständigkeitsklärung, Gemeinsame Empfehlung Begutachtung ).
Das Vorgehen bei der Bedarfsfeststellung und im gesamten Reha-Prozess soll transparent, individuell, lebensweltbezogen und zielorientiert sein. In ihrer Schlüsselfunktion ist die Bedarfsfeststellung in einem dreidimensionalen Zusammenhang zu sehen. Auf der personalen Ebene steht mit der Personenzentrierung der Mensch mit Behinderung im Mittelpunkt. Auf der Prozess-Ebene sind die fünf Phasen des Reha-Prozesses eine Orientierung für notwendiges Handeln. Und auf der Strukturebene sind Standards für Beratung, trägerübergreifendes Fallmanagement oder die Instrumente zur Feststellung des individuellen Bedarfs grundlegend.
Die Anforderungen dieser Standards sind anspruchsvoll. Sie sollten sich an der ICF orientieren, individuell und lebenslagenbezogen sein, transparent, konsensorientiert und nahtlos ineinandergreifend, dazu zielorientiert und qualitätsgesichert. Kurz: Das ideale Steuerungselement im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis zwischen Leistungsberechtigten, Leistungsträgern und Leistungserbringern.

Zukunftsorientiertes Vorgehen
Was aber jeweils als Bedarf gesehen wird, ist geprägt durch unterschiedliche Vorstellungen von Beeinträchtigung, Behinderung und Teilhabe. Woran wird ein Bedarf festgemacht? Worauf gründet der Bedarfsbegriff? Das hängt auch immer von der sozialpolitischen Perspektive ab.
Hier spielen Interessen, Fragen der Leistungszuweisung und auch der Finanzierung entscheidende Rollen. Diese Fragen der politischen Ökonomie der Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung müssen natürlich im Kontext der Weiterentwicklung der Sozialsysteme gesehen werden. Mit der Reform der Eingliederungshilfe stehen grundlegende Anforderungen an die Feststellung von Teilhabebedarf für die Leistungsträger in der Diskussion. Die Bedarfe behinderter Menschen individuell festzustellen, ist ein Ausdruck gesellschaftlichen Wandels, der auch im Rahmen der unterschiedlichen Steuerungsinteressen von Leistungsträgern interpretiert werden muss. Hier gründen auch die Entwicklungsperspektiven für den Bereich der Bedarfsfeststellung.
Mit der individuellen, personenzentrierten Betrachtung des Einzelfalls sind die Vorgaben von UN-BRK und SGB IX beachtet worden. Die Frage nach den gemeinsamen Grundanforderungen für organisatorisches Handeln der Akteure setzt hier an. Bei aller Konzentration auf die individuelle Feststellung eines Bedarfs und ihrer Weiterentwicklung, müssen auch die Unterstützungsstrukturen im gesamten Prozess der Bedarfsermittlung kontinuierlich angepasst werden.
Bevor am Ende die individuell passgenaue Teilhabeleistung feststeht und bewilligt ist, muss ein Prozess mit definierten Phasen durchlaufen werden. Dieser Reha-Prozess – aufbauend auf eine trägerübergreifend entwickelte Terminologie im Rahmen der Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess der BAR – lässt sich in die Phasen der Bedarfserkennung (siehe Reha-Info 04-2015), der Bedarfsfeststellung, der Teilhabeplanung, der Leistungsdurchführung und des Leistungsabschlusses unterteilen.
In den nächsten Ausgaben der Reha-Info werden die der Bedarfsfeststellung folgenden Phasen näher beleuchtet.