Perspektivwechsel: Lebenslagen

Es lohnt sich die Perspektive zu wechseln:
Wissen die beteiligten Fachleute immer, wie sich die Folgen einer Behinderung in allen unterschiedlichen  Lebensbereichen wie Wohnen, Arbeit, Bildung, Freizeit auswirken? Viele Akteure in Politik und Wirtschaft, aber auch im Bereich Reha und Teilhabe wissen noch zu wenig, um auf die reale Situation behinderter Menschen in Deutschland umfassend und konzeptionell einzugehen. Es geht darum – aus der Perspektive der Menschen mit Behinderung – zu erkennen, welche Handlungsspielräume sie haben und wie sie unterstützt werden können, diese zu nutzen. Erst damit lassen sich eingeschränkte Teilhabe identifizieren und Maßnahmen entwickeln, die Handlungsspielräume für selbstbestimmte Lebensführung gestalten.
Grundmerkmal des Begriffs der Lebenslage ist seine Mehrdimensionalität. Er umfasst immer mehrere Lebensbereiche zugleich. Als Lebenslage wird demnach die Gesamtheit aller äußeren Bedingungen bezeichnet, die das Leben eines Menschen beeinflussen. Dazu zählen zentrale Lebensbereiche wie Ernährung, Wohnung, Bildung, Gesundheit, Freizeitgestaltung und soziale Netzwerke. Aber auch die Umstände, die Wohlbefinden, Zufriedenheit und Handlungsspielräume von Menschen garantieren. Mit dieser mehrdimensionalen Brille lassen sich unterschiedliche Lebensverhältnisse erfassen, innerhalb derer Menschen sich entwickeln und ihren  Handlungsspielraum abstecken können.
Die Stärke des Lebenslagen-Ansatzes liegt darin, dass Benachteiligungen und Einschränkungen der  Lebensqualität nicht nur eine ökonomische Dimension umfassen, sondern auch immaterielle Ressourcen wie Bildung, Gesundheit und soziale Netzwerke berücksichtigten – Stichwort gesellschaftliche Teilhabe. Denn im Lebenslagenansatz gibt es keine einfachen Ursache-Wirkung-Relationen, individuelle Lebenslagen sind zugleich Ursache und Wirkung. Wenn die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung abgebaut werden soll,  müssen Indikatoren entwickelt werden, die die vielfältigen Lebenslagen erfassen können. Mit diesen Indikatoren werden auch die Chancen und Grenzen der Erfassung und Bewertung einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung deutlich. Über die Anzahl von Menschen mit Behinderungen liegen nach wie vor keine aussagekräftigen Daten vor. Insbesondere fehlen Statistiken, die übergreifend und durchgängig diesen Personenkreis auf Basis eines vergleichbaren Behinderungsbegriff es erfassen.

Hintergrund
Neu ist die Lebenslagenorientierung nicht. Aber deshalb ist sie noch lange kein „alter Hut“. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Otto Neurath den Begriff der „Lebenslage“ in die Sozialwissenschaft eingeführt und die Mehrdimensionalität der Lebensumstände betont. Später hat Gerhard Weisser mit dem Begriff stärker auf die Handlungsmöglichkeiten zur Realisierung von Lebenschancen fokussiert. In den 1970-er Jahren knüpfte Ingeborg Nahnsen hieran an, und identifizierte fünf für menschliches Handeln grundlegende Spielräume, anhand derer sich die Gesamtheit der Lebenslagen beschreiben lassen: den Versorgungs- und Einkommensspielraum, den Kontakt- und Kooperationsspielraum, den Lern- und Erfahrungsspielraum sowie den Dispositionsspielraum. Danach ist die Lebenslage der von außen determinierte Handlungsspielraum, der dem Einzelnen zur Entfaltung und Befriedigung seiner Interessen zur Verfügung steht (Nahnsen 1975). Neuere Diskussionen betonen stärker den Ansatz der „Capabilities“ (Verwirklichungschancen) als mehrdimensionalen Handlungsmöglichkeiten (Amartya Sen).

Das Grundgerüst steht
Mit dem SGB IX wurde der Grundstein für ein bürgernahes Rehabilitations- und Teilhaberecht gelegt. Danach sollen die Hilfen für Menschen mit Behinderungen ausdrücklich darauf ausgerichtet sein, „die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die persönliche Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX) “.
Außerdem hat der Gesetzgeber im SGB IX seinen Willen zum Ausdruck gebracht, dass die Leistungserbringung am Bedarf des Einzelfalls auszurichten ist und dass sowohl Leistungsanbieter als auch Leistungsträger abgestimmte und maßgeschneiderte Hilfen zur Verfügung stellen (sollen). Der damit gewünschte Wechsel von der angebots- zur personenzentrierten Unterstützung setzt ein hohes Maß an regionaler Zusammenarbeit der Beteiligten sowie die (fallbezogene) Vernetzung von Hilfeangeboten mit reibungslosen Übergängen zwischen den verschiedenen Akteuren voraus. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es erforderlich, ein flächendeckendes, bedarfsgerechtes Netz von Hilfen zu schaffen, das den unterschiedlichen Ansprüchen an die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gerecht wird.
Die UN-Behindertenrechtskonvention konkretisiert vor dem Hintergrund spezieller Bedürfnisse und Lebenslagen die universellen Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen. Damit stellt das Übereinkommen einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Rechte behinderter Menschen weltweit dar. In der Konvention wurde der Behindertenbegriff der WHO aufgegriffen, wonach Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen den Beeinträchtigungen behinderter Menschen sowie einstellungs-und umweltbedingten Barrieren entsteht.
Die UN-Behindertenrechtskonvention betont den Grundgedanken der vollen und wirksamen gesellschaftlichen Teilhabe. Hierfür stellt sie vor allem für folgende Lebensbereiche sowie übergeordnete Querschnittsthemen Forderungen auf:

■ Erziehung und Bildung
■ Arbeit und Beschäftigung
■ Wohnen
■ Kultur, Sport und Freizeit
■ Gesundheit und Pflege
■ Schutz der Persönlichkeitsrechte
■ Partizipation und Interessenvertretung
■ Mobilität und Barrierefreiheit
■ barrierefreie Kommunikation und Information.

Dabei sollen die gesellschaftlichen Strukturen so gestaltet und verändert werden, dass sie den unterschiedlichen Lebensbedingungen und -lagen – gerade auch von Menschen mit Behinderungen – besser gerecht werden. Insoweit wirkt die UN-Behindertenrechtskonvention sowohl auf der gesellschaftlichen als auch auf der persönlichen Ebene.

Teilhabebericht
2013 nimmt der Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit  Beeinträchtigungen erstmals alle Lebensbereiche in den Blick. Dem Bericht zufolge nimmt knapp ein Viertel der Menschen mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen weitgehend unbehindert am gesellschaftlichen Leben teil. Fast genauso viele Menschen mit Behinderung berichteten aber auch von teils massiven Einschränkungen. Der Teilhabebericht soll genauere Angaben über die Lage von Menschen mit Behinderung in Deutschland liefern. Auf Basis dieser Fakten soll deren Lebenssituation verbessert werden. Der Lebenslagenansatz zielt auf den Alltag. Das Alltagsleben wird durch die eigenen Erfahrungen und Aufgaben wahrgenommen, die sich im Umfeld der Menschen vorfinden. Entscheidend ist, welche Dimensionen ihrer Lebenswelt von Menschen mit Behinderung als relevant betrachtet werden. Und wie und in welchem Umfang sich die Beraterinnen und Berater der jeweiligen Institutionen mit den Lebenslagen ihrer Klientinnen und Klienten befassen (können).

Jeder Faktor zählt
Mit dem Lebenslagenkonzept kann man also, zumindest annähernd, die Handlungsspielräume der Menschen mehrdimensional erfassen. Damit können Stufen von Inklusion oder Exklusion genauer beschrieben werden. Verbunden mit den Faktoren, die das Risiko sozialer Exklusion beeinflussen können, wie Schulabschluss, berufliche Qualifikation, Einkommens- und Vermögenssituation, Familienkonstellation oder Gesundheitszustand, lassen sich Lebenslagen durchaus beleuchten. Der Handlungsspielraum für das Wohnen beispielsweise hängt unmittelbar mit dem Einkommen, aber auch mit dem Wohnangebot und den Mietpreisen in der jeweiligen Region zusammen.

Fazit
Es reicht nicht, die Lebenslagen von Menschen mit Behinderung zu beschreiben, man muss sie auch verändern, optimieren und mit Handlungsspielräumen versehen: Erfassung der Lebensrealität mit Blick auf die Verwirklichung gleichberechtigter Teilhabe. Die Bedingungen unter denen Menschen ihr Leben führen, können nur dort nachvollzogen werden wo das Leben stattfindet: In Schulen, Kindergärten, zu Hause oder an Orten der Freizeitgestaltung. Individuelle Lebenslagen und die damit verbundenen Lebensziele, Lebensweisen und Lebensgefühle sind immer sozial strukturiert. Soziale Strukturen strukturieren individuelles Leben, d. h. sie ermöglichen und schränken zugleich ein. Die goldene Mitte wäre schön.