Rechtsprechung

Urteil des Europäischen Gerichtshofes zum Begriff der Behinderung*

Der EuGH klärt die Frage, ob und wann auch chronische Krankheiten vom Begriff der Behinderung im Sinne der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie (RL 2000/78/EG) umfasst sein können. Die im Hinblick auf zwei Fälle aus Dänemark (im Rahmen sog. verbundener Verfahren) ergangene Entscheidung  hat möglicherweise Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht und ggf. auch auf sozialrechtliche Fragestellungen.

Kernaussagen:

1. Eine „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG liegt auch dann vor, wenn eine ärztlich diagnostizierte Krankheit eine lange andauernde Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, welche in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen gleichberechtigten Teilhabe am Berufsleben, hindern können.

Nach Art.5 dieser Richtlinie hat der Arbeitgeber zur Gewährleistung des Gleichheitsgrundsatzes für Menschen mit Behinderung angemessene Vorkehrungen/Maßnahmen zu treffen, um diesen die gleichberechtigte Teilhabe am Berufsleben zu ermöglichen, es sei denn, diese Vorkehrungen/Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten.

2. Eine Verkürzung der Arbeitszeit kann eine  solche angemessene Vorkehrung für Menschen mit Behinderung darstellen. Es ist Sache der nationalen Gerichte, zu beurteilen, ob unter den konkreten Umständen des Einzelfalls die Verkürzung der Arbeitszeit als Vorkehrungsmaßnahme eine unverhältnismäßige Belastung des Arbeitgebers darstellt.

3. Nach einer nationalen Bestimmung kann ein Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag mit einer verkürzten Kündigungsfrist beenden, wenn der betroffene behinderte Arbeitnehmer innerhalb der letzten 12 Monate krankheitsbedingt 120 Tage mit Entgeltfortzahlung abwesend war. Dem steht die Richtlinie 2000/78/EG entgegen, wenn diese Fehlzeiten darauf zurückzuführen sind, dass der Arbeitgeber nicht gemäß der Verpflichtung nach Art. 5 der Richtlinie geeignete angemessene Maßnahmen ergriffen hat und die Fehlzeiten auf die Behinderung zurückzuführen sind.

 4. Ausnahme: Diese nationale Bestimmung verfolgt ein rechtmäßiges Ziel und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus. Das zu prüfen, ist Sache des jeweiligen nationalen Gerichts.

 Bedeutung für die Praxis:

Schon in der Präambel der UN-BRK heißt es, dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindert, und dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt.

Der EuGH erweitert nun mit seiner Entscheidung den Begriff der Behinderung im Kontext des Antidiskriminierungsrechts deutlich. Auch chronische Krankheiten sind danach vom Diskriminierungsschutz erfasst, wenn sie -im Ergebnis- zu einem Hindernis für die volle Teilhabe am Arbeitsleben führen. Diese Entscheidung könnte im deutschen Arbeitsrecht (z.B. im Kontext des BEM) dazu führen, dass die Rechtstellung von im o.g. Sinne chronisch Erkrankten im Arbeitsverhältnis mehr den nach geltender Gesetzeslage schwerbehinderten Beschäftigten vorbehaltenen Positionen angenähert wird. Es ist zudem nicht auszuschließen, dass das entsprechend erweiterte Verständnis von Behinderung auch in sozialrechtlichen Zusammenhängen Auswirkungen haben wird.

*Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 11. April 2013, Az.: C-335/11 und C-337/11