Reha-Info 05/2011 - Editorial

Menschen klassifizieren was sie hören und sehen, gehörte Töne zu Worten, gesehene Formen zu Buchstaben und Symbolen. Die Fähigkeit des Klassifizierens gilt als Voraussetzung der Begriffsbildung, also der Intelligenz. Klassifizierung ist somit auch die Grundlage jeder Verständigung.

Im weitesten Sinne ist eine Klassifikation eine Ordnung von Wissen. Kann man aber Wissen überhaupt ordnen? Da jeder Mensch seine Umwelt anders wahrnimmt, gibt es keine von allen akzeptierte Wissensordnung. Wahrnehmung ist subjektiv und damit auch der Erwerb von Wissen und schließlich jede Klassifikation. Damit es nicht zu Interpretationen von Objekten der Klassifikation kommt, sollte eine weitgehend akzeptierte Wissensordnung geschaffen werden. Nur so lässt sich eine Klassifikation sinnvoll nutzen, als Ordnungsfunktion und als Verständigungsfunktion.

Ist dies mit der ICF gelungen? ICF steht übersetzt für „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“.  Sie stellt den Versuch dar, eine Sprache für das „bio-psycho-soziale“ Modell zur Verfügung zu stellen. Aber kann man Menschen in ihrer Individualität, mit ihrer Behinderung, überhaupt klassifizieren? Kritiker wenden ein, das die ICF den Kern der Menschenwürde, die Subjekteigenschaft der Person, ignoriert. Sie falle hinter ein Menschenverständnis zurück, demzufolge das Individuum kein Objekt sei.

Mittlerweile hat die ICF aber ein breites internationales Fundament. Mit ihr lassen sich die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen umfänglich aufzuzeigen. Daher gilt es, das neue Modell, die neue Philosophie sowie die Klassifikation mit ihren Inhalten und taxonomischen Eigenschaften und Regeln bekannt zu machen. Mit der stärkeren Gewichtung und besseren Abbildung sozialer Faktoren gewinnt die ICF  zunehmend an Bedeutung. Das gelingt vor allem in Arbeitskontexten, die bemüht sind die Partizipation einer Person durch Förderung der individuellen Fähigkeit und durch Veränderungen in der Umwelt zu verstehen oder zu verbessern.

Damit ist die Etablierung der ICF aber noch lange nicht erreicht. Sie dauert bis heute an. Die BAR begleitet diesen Prozess aktiv, mit Praxisleitfäden zur Implementierung der ICF, aber auch bei der Mitwirkung zur Verbesserung der Systematik von personbezogenen Faktoren. Zu hoffen bleibt, dass sich alle in sozialen Praxisfeldern tätigen Fachkräfte noch stärker bei der Weiterentwicklung und Etablierung engagieren. Bei aller Kritik an der ICF und ihren offensichtlichen Vorzügen, eines ist unstrittig: Die Menschenwürde ist unantastbar.

Bernd Petri

Geschäftsführer der BAR