Lebenslage Freizeit, Kultur und Sport

Frank P. sitzt seit 3 Jahren im Rollstuhl. Die Multiple Sklerose zwang den 60-jähirgen zur Aufgabe seiner Tätigkeit als Betriebswirt und schließlich in den Rollstuhl. Schlaf, Ernährung, die alltägliche Pflege und Therapien geben seinem Alltag Kontur. Daneben hat er mehr Zeit, als zu der Zeit als er noch berufstätig war, aber ist dies auch Freizeit?

Freizeit, Kultur und Sport sind als Motoren für Prävention, Gesundheitsförderung und zur sozialen Vernetzung und Selbstverwirklichung anerkannt und zugleich mit individuellen und gesellschaftlichen Erwartungen belegt. Für Menschen mit Behinderungen erfüllen sich diese Erwartungen weniger als im  Vergleich zu anderen Menschen. Das verdeutlichen auch Zahlen aus dem Teilhabebericht der Bundesregierung. So treiben 54 % der 18 – 49-Jährigen mit Beeinträchtigungen in ihrer Freizeit regelmäßig Sport. Bei Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigungen sind es dagegen 78 %. Die Zahl der Menschen mit Beeinträchtigungen, die nie musisch oder künstlerisch aktiv sind ist mit 56 % deutlich höher als der Anteil der Menschen ohne Beeinträchtigungen mit 46 %. Auch in Punkto Reisen ist eine Behinderung ein Hemmnis. 33 % der Menschen ohne Beeinträchtigung unternehmen mindestens einmal im Monat einen Ausflug oder eine kurze Reise. Bei Menschen mit Beeinträchtigungen ist diese Zahl wesentlich niedriger. Es sind gerade einmal 22 %.
Im Einzelnen haben alle Menschen sehr unterschiedliche Bedürfnisse: Bewegung, Bildung, Entspannung, Erholung, Abwechslung, Zerstreuung, Kommunikation, Geselligkeit und Information sind da nur einige Aspekte eines breiten Spektrums, die freie Zeit zu nutzen. Kulturellen und sportlichen Aktivitäten werden darüber hinaus identitäts- und gemeinschaftsstiftende Wirkungen zugeschrieben. Das geht von Fernseh-, Film- und Theatervorstellungen, Museen, Bibliotheken, über Ausflüge, Reisen und Tourismus bis zu sämtlichen sportlichen Aktivitäten. Für Menschen mit Behinderungen sind diese Aktivitäten häufig mit kleineren oder größeren Einschränkungen verbunden. Mal sind es nur Nuancen: Stufen bilden Barrieren oder es fehlt ein Dolmetscher, der die Menschen an ihrer Teilhabe hindert. Und mal fehlt es gänzlich an Angeboten und Strukturen.

Die Inklusion zielt – neben den „großen“ Bereichen Arbeit, Gesundheit und Wohnen – auf die selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen der Gesellschaft ab. Dazu zählen auch Erholung, Freizeit und Sport. In Artikel 30 der UN-BRK ist die rechtliche Gewährleistung zur Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport formuliert. Die Vertragsstaaten haben den Zugang zu Freizeit-Orten und Aktivitäten zu gewährleisten, behinderungsspezifische Aktivitäten anzubieten, aber auch kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potential zu fördern und unterstützen.

Freizeit, Kultur und Sport sind im Ergebnis Teil der Vielfalt des menschlichen Daseins und spielen daher eine herausragende Rolle für den Weg in eine inklusive Gesellschaft. Sie repräsentieren und reflektieren gesellschaftliche Debatten, politische Initiativen, fördern Perspektivwechsel und so die Auseinandersetzung mit sich selbst und Anderen. Damit die etwa 9,5 Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland durch die Gesellschaft wahrgenommen werden, ist ihre Präsenz in Kultur, Sport und Freizeit so richtig und wichtig. Mangelndes Wissen, Berührungsängste und Unsicherheiten der Menschen ohne Behinderung sind zu identifizieren und zu überfinden. Dies geht weit über die Reduzierung von Barrieren am Arbeitsplatz hinaus.

Menschen mit Beeinträchtigungen sind wie alle Menschen Persönlichkeiten mit eigenen Interessen, Hobbys und Vorlieben. Sie haben ein Recht darauf, ihre Zeit und ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen gestalten zu können. Aber genau das können sie vielfach nicht selbst verwirklichen. Bei der Planung von neuen Sportangeboten und -Anlagen, Kulturveranstaltungen oder anderen Freizeit- und Erholungseinrichtungen werden die Belange von Menschen mit Behinderungen noch zu selten mitgedacht – was sich nicht nur in mangelnder Barrierefreiheit widerspiegelt. Dass zum Beispiel manche Rollstuhlfahrer gerne klettern, können sich viele gar nicht vorstellen. Mal sind es – bei objektiver Betrachtung – die Dinge im Kleinen, oft sind es aber auch grundlegende Strukturen. Eine Hürde, vor allem im Bereich Sport, ist die Frage der Qualifikation zur Durchführung inklusiver Angebote. Es gibt unterschiedliche Lizenzen und Trainerscheine. Eine Lizenz im Breitensport reicht beispielsweise nicht aus, um Kurse für Menschen mit Einschränkungen anzubieten, vielmehr ist eine Lizenz des Behindertensportverbands erforderlich. Teilhabe heißt in diesem Zusammenhang nicht nur der passive Zugang zu Medien, Kultur- oder Sportveranstaltungen, sondern insbesondere auch die Möglichkeit aktiv als Sportler, Künstler, Musiker oder Darsteller Protagonist des Geschehens zu werden. Gesamtgesellschaftlich geht es also darum, Begegnungsräume für Menschen mit und ohne Behinderung zu schaffen, in denen zum Beispiel Freizeit- oder Sportangebote entwickelt werden, die für alle  interessant und zugänglich sind. Auch dürfen sich diese Angebote nicht nur auf den innerstädtischen Bereich begrenzen. In jedem Sozialraum müssen ausreichend Dienstleistungen und Angebote zur Verfügung stehen. Im Einzelfall hat der Gesetzgeber Leistungen der sozialen Teilhabe im SGB IX gesetzlich normiert, um Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen (siehe Kasten). Einschlägige Leistungen werden durch die Träger der Unfallversicherung, die Träger der Kriegsopfervorsorge und -fürsorge sowie durch die Träger der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe erbracht.

Frank P. war neulich auf einer Silberhochzeit zu Gast. Als nach dem Tanz die Polonäse begann, saß er mit seinem Rollstuhl zwar mitten im Geschehen, aber doch im Abseits. Ein Gast schnappte sich schließlich die Griffe seines Rollstuhls. Nun befand er sich am Anfang des „Zuges“; Teilhabe kann so einfach sein.