Bedeutung der Bedarfsfeststellung und Leistungsplanung im neuen Teilhaberecht

Eine Stellungnahme von Norbert Müller-Fehling, Geschäftsführer des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen.

Mit der Reform der Eingliederungshilfe in einem neuen, sozialhilfeunabhängigen Teilhaberecht sind tiefgreifende Veränderungen insbesondere in den Lebensbereichen Wohnen und Alltagsgestaltung verbunden. In den anderen Aufgabenfeldern der Eingliederungshilfe, hier insbesondere der Teilhabe am Arbeitsleben und der Bildung, geht es in erster Linie um die Schaffung zusätzlicher Leistungsformen zur Flexibilisierung der Angebote und einer stärkeren Inanspruchnahme der Regelsysteme, ohne dass sich hier ein Systemwechsel abzeichnet.

Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen – Teilhabeleistungen zukunftsfest gestalten

Menschen, die für ihre Alltagsgestaltung und soziale Teilhabe auf die Angebote von Einrichtungen und Diensten angewiesen sind, haben die größten Erwartungen an die Reform und sind von ihr am stärksten betroffen. Die meisten sind von Geburt an behindert oder haben die Behinderung frühkindlich erworben. Der größte Teil der Leistungen, zumindest die kostenaufwändigsten, werden in stationären und teilstationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe in der Kostenverantwortung der Sozialhilfeträger erbracht. Auf sie zielt die Reform vorrangig. Mit einer personenzentrierten Leistungsgestaltung und der damit verbundenen Aufhebung der Grenzen zwischen ambulanten und stationären Leistungen sollen die in der modernen Gesetzgebung für behinderte Menschen formulierten Ansprüche von Selbstbestimmung und Teilhabe umgesetzt werden. Es soll die Abkehr von den teuren stationären und teilstationären Leistungen eingeleitet werden, die nur mit einem weiteren zusätzlichen Aufwand einen Beitrag für eine inklusive Gesellschaft leisten können. Schließlich soll die Reform den Zugang zu Leistungen möglichen, die allen Bürgerinnen und Bürgern zustehen und damit die kompensatorische Eingliederungshilfe entlasten.
Menschen mit Behinderungen und ihre Familien haben die Erwartung, dass ihnen die Reform mit ihrer personenzentrierten Ausrichtung neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und damit mehr Einfluss darauf gibt, wo und wie sie leben wollen. Sie erwarten auch eine zukunfts- und entwicklungsfähige Eingliederungshilfe. Den Chancen der Reform stehen die mit der Aufgabe des stationären Systems verbundenen Risiken gegenüber. Insbesondere stationäre Wohnangebote bieten mit der Verantwortung für nahezu die gesamte Lebensführung ein hohes Maß an Versorgungssicherheit. Das wird insbesondere von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf und ihren Familien sehr geschätzt. Eine individuelle Bedarfsdeckung setzt eine gesicherte und umfassende Bedarfsfeststellung und Leistungsplanung voraus. Sie ist notwendig, um insbesondere die Risiken zu begrenzen, die in der Aufgabe der stationären Wohnversorgung liegen.

Hunderte von Leistungsträgern erfordern bindende Verfahren

Die Verfahren und Instrumente zur Bedarfsfeststellung und Leistungsplanung der heutigen Träger der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII zeichnen sich durch eine große Vielfalt aus. Strukturen, die verbindliche bundeseinheitliche Verfahren und Standards vereinbaren und sicherstellen könnten, gibt es hier nicht. Jeder Sozialhilfeträger hat jenseits der bestehenden dürren gesetzlichen Regelung einen weiten Spielraum, der sich in einer Vielzahl von Verfahren und Instrumenten der Bedarfsfeststellung und Leistungsplanung niederschlägt. Das führt zu unterschiedlichen Leistungszugängen und Bedarfseinschätzungen und in der Folge zu unterschiedlichen Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung.
Es ist davon auszugehen, dass es auch in Zukunft Hunderte Eingliederungshilfeträger geben wird. In einem Bundesteilhabegesetz muss ein für sie bindendes Verfahren verankert werden, das den Ablauf und die Verfahrensschritte regelt, die Beteiligten und ihre Rechte und Pflichten und ihr Zusammenwirken bestimmt. Die in dem Verfahren eingesetzten Instrumente, z. B. Erhebungsbögen oder Begutachtungsmanuale, müssen einheitlichen Grundsätzen und Maßstäben genügen. Einzelheiten hierzu haben die Fachverbände für Menschen mit Behinderung in den von ihnen erarbeiteten „Vorstellungen zur Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung der Leistungen nach einem Bundesteilhabegesetz“ niedergelegt (www.diefachverbände.de).

Die Risiken der Reform nicht einseitig verteilen
Um die notwendige Einheitlichkeit bei der Bedarfsfeststellung und Leistungsplanung insbesondere bei trägerübergreifenden Bedarfskonstellationen sicherzustellen, ist es sinnvoll, das Verfahren weitgehend für alle Rehabilitationsträger einheitlich im allgemeinen Teil des SGB IX zu regeln. Umfang und Regelungstiefe werden am Ende danach bestimmt, was die Rehabilitationsträger zulassen, den Interessen der Sozialpartner entspricht oder die Politik durchzusetzen vermag. Das wird überschaubar bleiben. Der Beteiligungsprozess beim BMAS hat deutlich gemacht, dass die Reform der Eingliederungshilfe so weit wie möglich ohne Auswirkungen auf die anderen Rehabilitationsträger und die Pflegeversicherung bleiben soll. Das ist zu bedauern, deswegen aber die Bedarfsfeststellung und Leistungsplanung unbestimmt und ungeregelt zu lassen, ist unverantwortlich. Das verlagert das Risiko der Reform insbesondere im Bereich der sozialen Teilhabe einseitig auf die Menschen mit Behinderung. Deshalb müssen für die Bedarfsfeststellung und Leistungsplanung zur sozialen Teilhabe (Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 5 Nr. 4 SGB IX)) unabhängig von der Trägerschaft klare gesetzliche Regeln geschaffen werden.
Die Personenzentrierung bringt es mit sich, dass ein Teil der zu verhandelnden Leistungsinhalte von den hochkarätig besetzten Verhandlungskommissionen über die Leistungsvereinbarungen in das individuelle Bedarfsfeststellungsverfahren verlagert wird. Augenhöhe ist dabei nur herzustellen, wenn Beratung und Unterstützung möglich sind. Leistungen zur sozialen Teilhabe bestimmen den Alltag, die Versorgungssicherheit, die Teilhabe und damit die Lebensqualität behinderter Menschen tiefgreifend und oft über sehr lange Zeiträume. Der Schlüssel zu diesen Leistungen ist ein Bedarfsfeststellungsverfahren, in dem die individuelle Lebenssituation erfasst werden kann, die Wünsche des Einzelnen über seine Lebensgestaltung ebenso berücksichtigt werden wie die Ressourcen im Umfeld. Das ist nur in einem Prozess vorstellbar, in dem der Mensch mit Behinderung Beratung und Unterstützung erfahren kann. Leben lässt sich nun einmal nicht in einem Termin planen, zu dem die Behörde freundlich einlädt und bei dem der Mensch mit Behinderung zu Protokoll gibt, wie und wo er leben will oder mit wem er seine Freizeit verbringen will. Das lässt sich nur in einem Prozess mit Menschen entwickeln, denen man vertraut.

Verfahrensrecht im SGB IX differenzieren und schärfen
Da, wo soziale Teilhabe auf andere Rehabilitationsleistungen trifft, sollte die Bedarfsfeststellung unter der Verantwortung eines Leistungsträgers stattfinden. Schwerpunkt und Umfang der zu erwartenden Leistung können Ansatzpunkte für die Bestimmung eines Beauftragten zur Durchführung des trägerübergreifenden Verfahrens geben. Ein weiterentwickelter §14 SGB IX kann zur Klärung der Zuständigkeit beitragen. Regeln für die Durchführung des Verfahrens sollten dabei einen höheren Stellenwert haben, als die Verlagerung der Entscheidungskompetenz über Leistungen, die sich ohnehin wohl kaum durchsetzen lassen. Ein großer Teil der zu erwartenden Einwände könnte ausgeräumt werden, wenn sich die weitgehenden und differenzierten Regelungen des Bedarfsfeststellungsverfahrens und die Anforderungen an die eingesetzten Instrumente auf die Lesitungsgruppe Nummer 4 des § 5 SGB IX beschränkten.