Lebenslagen aus Sicht von Wissenschaft und Politik

Drei Fragen an Prof. Dr. Julia Zinsmeister, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften,
Institut für Soziales Recht, Fachhochschule Köln:

Was verstehen Sie unter dem Begriff Lebenslagen?
Die „Lebenslage“ bezeichnet die Gesamtheit der sozioökonomischen, soziokulturellen und soziobiologischen Lebensgrundlagen / Ressourcen, die einem Menschen zur Verfügung stehen. Das Lebenslagenkonzept ermöglicht der Sozialforschung eine mehrdimensionale Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und sozialer Problemlagen. Nur so gelingt es, die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Lebensgrundlagen und Ressourcen, z. B. die Zusammenhänge zwischen Bildung, Einkommen und Gesundheit, aufzuzeigen.

Wo sehen Sie den Zusammenhang zwischen dem Lebenslagen-Konzept und der Rehabilitation?
Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe müssen sich an der Lebenssituation und den individuellen Bedarfen behinderter Menschen orientieren. Diese werden nicht nur durch die individuelle Beeinträchtigung, sondern ebenso durch zahlreiche andere Faktoren, z.B. durch die örtliche Infrastruktur und den Sozialraum, das Lebensalter, den ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus, das Geschlecht, die Verantwortung für pflege- und betreuungsbedürftige Angehörige, den Bildungsstand und die materiellen Ressourcen geprägt. Werden diese Faktoren und ihre Wechselwirkungen nicht mit berücksichtigt, gehen im Rehabilitationsprozess viele Menschen verloren, weil sie keinen Zugang zu den erforderlichen Informationen haben, die dringend benötigte Rehabilitationsmaßnahme nicht mit der Betreuung ihrer Kinder vereinbaren können oder sich intellektuell unter- oder überfordert fühlen.

Warum wurde dem aktuellen Teilhabebericht der Bundesregierung das Lebenslagen-Konzept zugrunde gelegt?
Das Lebenslagenkonzept ermöglicht es der Bundesregierung, den sich hieraus ergebenden vielfältigen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Lebensgrundlagen und Ressourcen besser Rechnung zu tragen. Die Bedenken der Praxis, dass hierdurch viele Erkenntnisse über die Lebenslagen behinderter Menschen relativiert oder verwässert werden, sind nachvollziehbar, aber unbegründet. Der eindimensionale Vergleich der Lebenssituation behinderter Menschen mit jener nichtbehinderter Menschen führt vielfach zu Verzerrungen. So zeigt der Vergleich der Lebenslagen anhand mehrerer Variablen (z.B. Behinderung, Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund), dass sich viele Aussagen zu älteren behinderten Menschen nicht mit den Lebenslagen der jüngeren decken oder sich bestimmte Aussagen zu den Lebenslagen behinderter Männern nicht auf behinderte Frauen übertragen lassen, weil sich deren Lebens-, Beschäftigungs- und Einkommenssituation, die Herausforderungen, vor die sie gestellt sind und die Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, deutlich voneinander unterscheiden. Wer diesen Unterschieden nicht Rechnung trägt, läuft Gefahr, relevante Barrieren und Diskriminierungsrisiken nicht zu erkennen und an vielen behinderten Menschen vorbeizuplanen. Je stärker verschiedene Kategorien sozialer Ungleichheit und ihre jeweiligen Wechselwirkungen berücksichtigt werden, umso genauer können gesellschaftliche Problemlagen identifiziert und Lösungsstrategien entwickelt werden. Der Lebenslagenansatz bietet damit auch die Chance, Angebote zur Rehabilitation und Teilhabe künftig noch stärker auf die individuellen Bedarfe der Einzelnen zuschneiden zu können.